#39 ADHS bei Erwachsenen: Vom Stigma zur Stärke

Shownotes

Konzentrationsprobleme, innere Unruhe, ständiges Gedankenkreisen – ADHS betrifft nicht nur Kinder. Viele Menschen leben auch als Erwachsene mit der Störung, oft ohne es zu wissen. Moderator Martin Hoffmann spricht mit Psychologin Magdalena Bossert von der SRH-Klinik Karlsbad-Langensteinbach darüber, warum ADHS bei Mädchen und Frauen häufig unerkannt bleibt, welche Anzeichen man im Erwachsenenalter beachten sollte und ob sich die Symptome tatsächlich mit den Jahren verändern oder „auswachsen“. Außerdem erzählt Corina Elfe, die ihre Diagnose erst als Erwachsene erhielt, wie sie gelernt hat, mit ADHS im Alltag umzugehen, was ihr hilft, Struktur zu finden und warum die späte Erkenntnis für sie zugleich eine große Erleichterung war.

Wichtig: Bei Verdacht auf ADHS immer eine Fachärztin oder einen Facharzt aufsuchen!

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Links zum Thema: Ihr wollt weitere Informationen zu Corina Elfe und ihrer Arbeit? Dann schaut doch mal auf folgenden Seiten vorbei: https://kapierfehler.de/ https://www.instagram.com/kapierfehler/

Weitere Informationen zu Magdalena Bossert gibt es über diesen Link: https://www.klinikum-karlsbad.de/unser-klinikum/unsere-mitarbeiterinnen-und-mitarbeiter/magdalen-bossert/

Dieser Artikel fasst euch nochmals zusammen, welche Symptome auf eine mögliche ADHS-Störung hinweisen. Wichtig: Sollte ein Verdacht bestehen, dann sucht auf jeden Fall eine Fachärztin oder einen Facharzt auf!

https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/adhs-bei-erwachsenen-symptome-und-behandlung/

Weitere Informationen und Anlaufstellen gibt es über folgende Websites:

https://www.adhs.info/fuer-erwachsene/adhs-im-erwachsenenalter/https://www.zentrales-adhs-netz.de/regionale-netze/https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/einrichtungen/kliniken/psychiatrie-und-psychotherapie/allgemeine-psychiatrie/ambulante-behandlung/adhs-ads-bei-erwachsenenhttps://www.uniklinik-freiburg.de/psych/ambulanzen/adhs-im-erwachsenenalter.html

Ihr seid von sexueller Gewalt oder sexuellem Missbrauch betroffen, oder kenn jemanden die/ der Hilfe benötigt? Dann findet ihr hier Anlaufstellen:

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Martin Hoffmann: Unterwegs für die Gesundheit, GESUNDNAH, der Podcast der AOK Baden-Württemberg. ADHS, das gibt es doch gar nicht, oder? Das ist nur eine Erfindung der Pharmaindustrie. Auch schön: ADHS ist ein Erziehungsproblem und eine bequeme Ausrede für unfähige Eltern. Und mein heimlicher Favorit, ADHS-Betroffene, brauchen nur mehr Bewegung an der frischen Luft. Alles ziemlich schräge Aussagen, die mir bei meiner Recherche begegnet sind. Ich bin Martin Hoffmann und heute möchte ich mehr über ADHS im Erwachsenenalter erfahren. Studien gehen davon aus, dass ca. 3% aller Erwachsenen an einer ADHS, also einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, leiden. Fälschlicherweise wird ADHS oft nur bei Kindern diagnostiziert. Die Annahme, dass die Störung sich auswächst, also nach der Pubertät verschwindet, ist genauso falsch wie die anderen Mythen, von denen ich eben gesprochen habe, so der aktuelle Stand der Forschung. Spannend finde ich auch, dass ADHS vor allem bei Frauen oft lange undiagnostiziert bleibt. Weil die Symptome und deren Ausprägung sich häufig anders zeigen. Ich muss gestehen, bei dem Thema habe ich so viele teils echt widersprüchliche und verwirrende Aussagen gelesen, deswegen bin ich echt froh, dass Magdalena Bossart Zeit für ein Gespräch hat. Sie ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin an der SRH-Klinik in Karlsbad-Langensteinbach. Sie hat sich auf ADHS und Autismus-Spektrumstörungen im Erwachsenenalter spezialisiert. Sie kann mir bestimmt helfen, einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu gewinnen. Außerdem interessieren mich natürlich erfolgsversprechende Behandlungsansätze. Danach geht's für mich zu Corinna Elfe. Corinna hat selbst die Diagnose ADHS. Was ich extrem spannend finde, sie ist Gymnasiallehrerin und unterstützt Kinder und deren Eltern im Umgang mit ADHS Außerdem ist sie bei Instagram extrem erfolgreich. Ihr folgen über 40.000 Leute. Und mit ihren Videos zu ADHS erreicht sie mehrere Hunderttausend Menschen. Wann Corinna die Diagnose bekommen hat, wie sie selbst mit den Symptomen lebt und welchen Einfluss sie auf ihre Arbeit haben, darüber werde ich mit ihr später sprechen. Ich stehe jetzt direkt vor dem SRH Klinikum in Karlsbad, direkt am Hauptgang. Und hier bin ich mit Frau Bossert verabredet. Sie meint, sie holt mich direkt an der Pforte ab. Und da sehe ich sie schon. Hallo, Frau Bossert, hallo.

Magdalena Bossert: Hallo Herr Hoffmann, herzlich willkommen.

Martin Hoffmann: Wo können wir hingehen, wo können wir uns unterhalten?

Magdalena Bossert: Wir können direkt geradeaus in den Ruheraum, da können wir uns in Ruhe unterhalten.

Martin Hoffmann: Frau Bossert, was versteht man denn genau unter ADHS? Und ich habe jetzt auch online viel gelesen. Was ist denn der Unterschied zu ADS eigentlich?

Magdalena Bossert: ADHS ist eine Abkürzung, die steht für Aufmerksamkeitsdefizit Hyperaktivitätsstörung. Das ist der Sammelbegriff, der sich mittlerweile im deutschsprachigen Raum durchgesetzt hat. Und ADS, ist eine Unterform, also im Endeffekt gibt es drei Kernsymptome bei der Erkrankung. Die Unaufmerksamkeit, die Hyperaktivität und die Impulsivität. Und ADS, da fehlt praktisch der hyperaktive Teil.

Martin Hoffmann: Wie unterscheiden sich die Symptome, wenn wir mal auf Kinder und Jugendliche schauen und auf Erwachsene? Weil ich habe auch wieder oft gelesen, naja, eigentlich so in Anführungszeichen ist es eine Kinderkrankheit.

Magdalena Bossert: Ja, das ist auch der Stand, wo man in der Forschung lang davon ausgeht. Man hat so gesagt, ADHS wächst sich aus. Mittlerweile zeigen wissenschaftliche Arbeiten, dass das eben nicht so ist, dass tatsächlich bei ungefähr zwei Drittel aller Patienten die ADHS-Symptomatik bis ins erwachsene Alter fort besteht. Das heißt, die verändert sich so ein bisschen. Dazu kann ich gleich noch was sagen. Aber ganz, ganz viele Menschen, die als Kind ADHS haben, haben es eben auch im erwachsenen Alter. Was sich verändert, ist beispielsweise die Symptomausprägung. Also im neuen Diagnosesystem von der amerikanischen Fachgesellschaft wurde zum Beispiel festgelegt, dass Erwachsene nicht mehr sechs Kriterien, sondern nur noch fünf erfüllen müssen im Erwachsenenalter, weil einfach die Symtome generell im Erwachsenenalter so ein bisschen abnehmen. Und auch Symptompräsentationen verändern sich, während Kinder eher hyperaktiv sind, zappelig sind, unruhig sind, berichten Erwachsene mit ADHS häufig eher von so einem inneren Gefühl getrieben zu sein, wie vom Motor eine innere Unruhe zu haben. Das wäre jetzt so ein typisches Beispiel, was sich verändert.

Martin Hoffmann: Ich finde dieses, dieses rauswachsen, finde ich spannend, habe ich auch gelesen, kann es eigentlich auch damit einfach zu tun haben, naja, wenn ich halt etwas über mehrere Jahre habe, ich gewöhne mich ja auch vielleicht daran und auch Symptome interpretiere ich vielleicht auch anders und entwickle vielleicht auch ein Ausgleichsverhalten oder sowas oder?

Magdalena Bossert: Ja, genau, also das ist auch ein ganz wichtiger Punkt, den Sie da noch ansprechen. Vielen Dank. Die Kompensationsstrategien. Also wenn ich einfach immer wieder meinen Schlüssel, mein Geldbeutel, mein Handy verlege, wenn ich merke, dass ich einfach sehr vergesslich bin, gibt es Menschen, die einfach die entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten dann auch haben zu sagen, irgendwann muss ich mir Strategien angewöhnen. Ich habe eben einen festen Ort für diese Gegenstände und dadurch vergesse ich die auch nicht mehr. Und was eben auch damit einhergeht, ist natürlich, dass auch bei Menschen ohne ADHS ein Kind impulsiver ist als ein Erwachsener. Also auch diese Entwicklung haben wir bei Menschen mit ADHS, dass einfach ein erwachsener Mensch mit ADHS Impulse beispielsweise besser unterdrücken kann als das entsprechende Kind.

Martin Hoffmann: Wie kann es denn eigentlich sein, dass jetzt, sage ich mal, als Kind wird es nicht diagnostiziert, aber dann so im frühen Erwachsenenalter, dass das dann auf einmal aufkommt? Weil ich sage es mal so, also gerade Kinder und Jugendliche, die sind ja eigentlich noch relativ häufig auch bei Ärztinnen und Ärzten vorstellig, die ganzen U-Untersuchungen und dann nimmt es ja dann eigentlich ab. Also fällt sowas nicht, wenn dann auch auf jeden Fall im jungen Alter auf? Also es wundert mich einfach so ein bisschen.

Magdalena Bossert: Das ist auch tatsächlich bei vielen Patienten der Fall, dass zumindest in der Kindheit, sei es die Diagnose mal gestellt wurde oder von irgendeiner Lehrerin mal der Verdacht geäußert wurde. Manchmal wachsen entsprechende Personen einfach im Umfeld auf, wo vielleicht gar nicht die Ressourcen da sind, dass jemand schaut, ist das Kind, wie Sie angesprochen haben, zur U-Untersuchung vielleicht gar nicht regelmäßig zur U-Untersuchungen gegangen. Oder das Kind eben im Umfeld aufwächst, wo da nicht so danach geschaut wird.

Martin Hoffmann: Warum wird ADHS, wenn wir jetzt auf Erwachsene schauen, so spät diagnostiziert?

Magdalena Bossert: Dafür gibt es auch wieder vielfältige Gründe. Ein Grund liegt im Gesundheitssystem selber verankert. Wir haben einerseits eine Zweiteilung in Deutschland zwischen einerseits der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychatrie. Das heißt, diese Übergangsphasen, das sogenannte Transitionsalter von den Jugendlichen, das ist nicht gut abgebildet. Wir im Erwachenenalter, wir haben hier zum Beispiel im Haus eine psychiatrische Institutsambulanz, wo die Diagnose ADHS nicht im Leistungskatalog enthalten ist. Das heißt, wir können eigentlich über die Ambulanz gar keine ADHS-Diagnostik anbieten. Wir können das immer wieder Drittmittel finanziert, zum Beispiel über Forschungsgelder, für einen gewissen Zeitraum anbieten, aber nicht dauerhaft. Und die niedergelassenen Therapeuten, ich habe gerade dargestellt, dass der Aufwand einfach relativ hoch ist, die scheuen manchmal, diesen Aufwand zu betreiben. Das heißt bei anderen psychischen Erkrankungen und Depressionen, eine Angsterkrankung, muss ich nur gucken, liegt die Symptomatik aktuell vor. Bei ADHS ist der Aufwand höher und damit geht ja nicht automatisch eine psychotherapeutische Behandlung einher. Das heißt, manche niedergelassenen Kollegen sagen einfach, ich kenne mich damit nicht gut genug aus. Ich kann das auch nicht anbieten.

Martin Hoffmann: Wie kann es eigentlich sein, wenn wir, ich meine die Zahlen, die ich davon gefunden habe, so circa drei Prozent der Bevölkerung sind von ADHS betroffen? Ja. Also wir reden ja da wirklich über Millionen Menschen. Also dass es da kein besseres Netz gibt, dass es kein besseren Diagnosenetz gibt. Also wie kann denn sowas sein, wenn es wirklich so viele Menschen betrifft?

Magdalena Bossert: Ja, und das ist sicherlich was, was man kritisieren kann, insbesondere weil man eben auch weiß, dass es einen riesigen, sozioökonomischen und eben für die ganze Gesellschaft wahnsinnige Kosten damit einhergehen. Man weiß, das Betroffene häufig hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, beruflich nicht so weit kommen, trotz entsprechender intellektueller Begabung. Tatsächlich ist auch die Mortalität bei Menschen, also die Todesrate bei Menschen mit ADHS erhöht, weil sie eben häufiger in Unfälle verwickelt sind durch die Symptomatik, haben Schwierigkeiten in Partnerschaften. Das heißt, die Betroffenen haben ganz ausgeprägtes Leiden und Beeinträchtigung im Alltag und es wäre wünschenswert, dass sie auch die adäquate Behandlung kriegen.

Martin Hoffmann: Welche Unterschiede gibt es bei Geschlechtern, was die Diagnose angeht?

Magdalena Bossert: Ja, also die Geschlechterverteilung in Studien ist so 4 zu 1. Also Männer haben ADHS, mit Hyperaktivität häufiger. Man geht davon aus, dass die Unterform ohne Hyperaktivität bei Frauen häufiger vorkommt. Dadurch fallen entsprechende Personen auch nicht so auf. Das heißt, die wirken dann vielleicht eher verträumt, eher mal abwesend. Kriegen vielleicht Sachen organisatorisch nicht so gut auf die Reihe. Was natürlich nicht so auffällig ist, wie wenn jemand... Sehr zappelig ist, sehr unruhig ist und in Konflikte gerät. Vielleicht als Kind dann häufiger auch mal in der Schlägerei ist oder ähnliches. Das ist natürlich auffälliger und wird dann vielleicht eher diagnostiziert oder zur Kenntnis genommen.

Martin Hoffmann: Wenn wir jetzt über Herausforderungen sprechen, die Betroffene in ihrem Alltag bewältigen müssen, was wird da oft an sie herangetragen?

Magdalena Bossert: Die Herausforderungen im Alltag leiten sich zum gewissen Maß aus den Symptomen ab, die die Betroffene haben. Die Erwachsenen, Menschen mit ADHS, das ist, wir haben einen chronischen Verlauf, das heißt, die leben schon sehr lange mit der Störung und dadurch entstehen teilweise auch sekundäre Probleme. Das heißt, irgendwann habe ich das Gefühl, vielleicht weniger wert zu sein als andere. Ich falle durchs Raster, ich habe vielleicht häufig berufliche Wechsel, schaffe es nicht, im Beruf zu bleiben. In der Partnerschaft ist vielleicht die Kommunikation schwierig. Es könnte beispielsweise sein, dass ich Probleme habe, weil ich vielleicht mehr Geld ausgebe, als ich eigentlich zur Verfügung habe, durch die Impulsivität. Man weiß, dass Menschen mit ADHS-Schwierigkeiten haben, Emotionen zu regulieren. Das heißt, meine Stimmung schwankt vielleicht häufiger, ich schiebe Dinge vor mir auf. Also es können ganz, ganz vielfältige Probleme aus den Symptomen entstehen, Worüber wir jetzt noch nicht gesprochen haben. Was vielleicht wichtig zu erwähnen ist, ist, dass Erwachsene mit ADHS selten nur die ADHS-Erkrankung selber haben, sondern ungefähr drei Viertel haben eine weitere psychische Erkrankungen und 60 Prozent haben zwei oder mehr weitere psychische Erkrankungen. Wenn sich ein Patient bei uns vorstellt, beispielsweise im stationären Kontext, kommt der selten wegen der ADHS Symptomatik selber, sondern vielleicht weil er eine schwere Depression hat, soziale Ängste entwickelt hat, eine Suchterkrankheit entwickelt hat. Und erst im Verlauf sehen wir vielleicht die zugrunde liegende ADHS-Erkrankung.

Martin Hoffmann: Das heißt, eigentlich ADHS ist als erstes da und daraus werden dann, kommen noch Folge-Erkrankungen quasi wieder dazu. Bedeutet das dann, wenn ADHS nicht früh erkannt wird und nicht früh schon behandelt wird, also anders gesagt, wenn es früh erkannt wird und behandelt, dass dann eine Depression zum Beispiel verhindert werden könnte?

Magdalena Bossert: Jeder Patient ist anders, jeder Mensch ist anders. Das trifft nicht auf alle zu. Aber es gibt ganz, ganz viele Fälle, wo genau das, was Sie jetzt angesprochen haben, der Fall ist. Wäre die ADHS-Symptomatik sauber behandelt worden, würden eventuell die sekundären Erkrankungen gar nicht in dem Ausmaß vorliegen.

Martin Hoffmann: Gibt es Stärken, die vielleicht eine ADHS-Erkrankung auch mit sich bringen können?

Magdalena Bossert: Ja, die gibt es auf jeden Fall auch und das ist auch ganz wichtig, wenn man beispielsweise psychotherapeutisch jetzt mit den entsprechenden Patienten arbeitet, die herauszuarbeiten und auch die Seiten wieder zu sehen, weil dies ja auch dazu gehört. Menschen mit ADHS können besonders kreativ sein, die sind sicherlich spontan für spontane Unternehmungen zu haben. Sie können auch für Themen, für die sie sich begeistern, tatsächlich sehr aufmerksam sein, können im sogenannten Hyperfokus sein. Genau, sie können vielleicht sehr intuitiv sein, sich gut in andere reinversetzen. Es gibt ganz viele Dinge, die Menschen mit ADHS auch gut können oder sehr gut können.

Martin Hoffmann: Wie lassen sich denn Symptome behandeln? Ist ADHS, ist das generell, ich sage es mal auch ganz laienhaft, ist es heilbar?

Magdalena Bossert: Es gibt Menschen, sonst würden es ja nicht welche geben, die es im Erwachsenenalter nicht mehr haben, wo die Symptomkriterien im Erachsenenalter nicht mehr erfüllt sind. Es kann immer sein, dass ich irgendwann unter der Schwelle bin und die Störung nicht mehr vollständig vorliegt. Leitliniengerechte Behandlung ist ganz klar bei mittelschwer oder schwer ausgeprägter ADHS-Symptomatik, die Pharmakotherapie. Genau, das Präparat ist dann eben Methylphenidat. Und genau damit kann man sehr, sehr gute Wirkungen erzielen. Man sollte das allerdings einbetten im Gesamtkontext, weil auch eine regelmäßige Medikamenteneinnahme natürlich wichtig ist. Das heißt, die Patienten sollten verstehen, warum nehme ich das? Wie wirkt das? Wie muss ich das einnehmen? Und vielleicht sogar auch Strategien zu entwickeln, wie man das einnimmt. Ergänzend dazu weiß man, dass kognitive Verhaltenstherapie wirksam ist. Da geht es dann teilweise auch darum... Also so was, was wir auch schon angesprochen haben, so was wie Stärken und Schwächen zu erkennen, was über das Störungsbild zu lernen, Medikamente regelmäßig einzunehmen. Aber vielleicht auch so was wie innere Glaubenssätze, die ich entwickelt habe, zu korrigieren. Ich bin ein Versager, ich bin ein schlechter Mensch. Das haben viele Menschen mit ADHS im Laufe der Jahre entwickelt, weil sie immer wieder das Gefühl haben, durchs Raster zu fallen. An so was kann man dann therapeutisch arbeiten. Oder wenn die Organisationsfähigkeit sehr beeinträchtigt ist, kann man auch noch mal Kompensationsstrategien mit den entsprechenden Patienten entwickeln.

Martin Hoffmann: Ich höre da jetzt gerade raus, dass das, ich sage es mal, der therapeutische Ansatz als Zusatz zu der Medikation gedacht ist.

Magdalena Bossert: Genau, bei leichten Formen von ADHS kann man auch therapeutisch allein arbeiten. Bei mittelschweren und schweren empfiehlt sich eine Kombination. Und es gibt noch andere Sachen, wo man eine Wirksamkeit nachweisen kann. Das sind Achtsamkeitstraining, Sport, Interventionen, sowas.

Martin Hoffmann: Was raten Sie denn Menschen, die jetzt zum Beispiel hier den Podcast hören und sagen ah, okay, bei den und den Symptomen, naja, da erkenne ich mich dann doch schon wieder oder ich bin auch vielleicht schon mal darauf angesprochen worden. Was sollen die machen? Also was sind so erste Schritte, wenn ich einen Verdacht habe?

Magdalena Bossert: Einen Verdacht zu haben, kann einen dazu veranlassen, sich zu informieren, was gibt es in der Region für Anlaufstellen, welche Hilfesysteme gibts. Ich würde jedem Betroffenen immer dann, wenn ein Leidensdruck da ist, wenn ich tatsächlich Beeinträchtigungen im Alltag merke, dann ist der Zeitpunkt gekommen, wo es sinnvoll sein kann, das mal mit anderen zu besprechen und sich tatsächlich Unterstützung zu suchen.

Martin Hoffmann: Frau Bossert, vielen, vielen Dank. Ich habe unglaublich viel gelernt. Und ich muss auch sagen, Sie haben auch in meinem Kopf so ein bisschen aufgeräumt, also mit verschiedenen Vorurteilen, die ich natürlich auch sehr oft gelesen habe in Kommentaren überall. Und ich glaube, jetzt bin ich ein bisschen klarer, was ADHS angeht. Danke Ihnen.

Magdalena Bossert: Ja, ich danke Ihnen, dass Sie den Weg hier auf sich genommen haben und wir dieses interessante Gespräch zusammenführen konnten.

Martin Hoffmann: Behandlungsansätze für ADHS im Erwachsenenalter umfassen Medikamente, Psychotherapie und Coaching-Strategien, um den Umgang mit der Symptomatik zu verbessern. Wie Magdalena Bossert sagt, oft ist es eben eine Kombination aus Medikamenten und Verhaltenstherapie, die am wirkungsvollsten ist. Ich bin jetzt echt gespannt, wie Corinna Elfe das macht. Sie hat selbst die Diagnose ADHS. Auf der anderen Seite ist sie aber auch Gymnasiallehrerin, Beraterin und leitet Fortbildungen. Sie unterstützt Lehrkräfte und Eltern dabei, neurodivergente Kinder mit ADHS, Autismus und anderen herausforderndem Verhalten besser zu begleiten. Und durch ihre eigene Diagnose hat sie einen ganz anderen Zugang zu dem Thema und das ist echt nicht zu unterschätzen. Ich habe bei der Recherche vor allem in Kommentaren oft gelesen, dass aus der Peergroup Tipps und Behandlungsansätze nochmal ganz anders angenommen werden. Ich folge Corinna jetzt schon länger auf Instagram und habe da natürlich auch einiges über sie und ihre Methoden schon erfahren können. Ihr Name dort, @ Kapierfehler, verlinken wir natürlich alles in den Show Notes. Ich habe definitiv eine Menge Fragen an Sie. Kurze Triggerwarnung. Im Gespräch mit Corinna kommt auch das Thema sexuelle Übergriffe auf. Das kann emotional sehr belastend sein. Bitte hör nur weiter, wenn du dich damit wohlfühlst und mach eine Pause, wenn Du merkst, dass es Dir zu viel wird. Wenn Du selbst betroffen bist oder jemanden kennst, der Unterstützung braucht, findest Du hilfreiche Kontakte und Anlaufstellen in unseren Shownotes Ich bin jetzt in Krauchenwies, das ist ein bisschen südlich von Sigmaringen und hier bin ich mit Corinna Elfe verabredet.

Corina Elfe: Hallo Martin, schön, dass du da bist.

Martin Hoffmann: Hallo Corinna!

Corina Elfe: Ich hab schon einen Kaffee gemacht.

Martin Hoffmann: Perfekt! Corinna, sag mal, wann hast du deine Diagnose bekommen, in welchem Alter?

Corina Elfe: Ich war 40, also ganz kurz vor meinem 40. Geburtstag. Und es war eine sehr unverhoffte Diagnose, eine überraschende.

Martin Hoffmann: Wenn du dann zurückblickst, so nochmal, gab es vorher schon Anzeichen, wo du gesagt hast, hey, eigentlich war es relativ eindeutig, dass es ADHS sein muss.

Corina Elfe: Ja, alles im Nachhinein, im nachhinein ja.

Martin Hoffmann: Das hat Sinn gemacht, dann alles im Nachhinein.

Corina Elfe: Für mich war nie davor der Gedanke da, dass das eine ADHS sein könnte.

Martin Hoffmann: Wenn du jetzt so reflektierst, was war es also was, was hat dich denn eigentlich angesprungen, wo man sagt okay, es war klar?

Corina Elfe: Also hauptsächlich meine Grundschulzeugnisse. Als ich die noch mal gelesen habe, habe ich gedacht, wow, das ist im Prinzip nichts anderes als die Diagnosekriterien aneinandergereiht. Aber so Dinge wie nicht warten können, also unglaublich ungeduldig sein an der Supermarktkasse oder im Stau oder wenn jemand langsam Auto fährt und ich ertrage das nicht. Das sind so Dinge. Und dann dieses Doppel- und Dreifachkalender führen. Damit ich ja nicht zu spät komme oder irgendwas vergesse. Das ist auch noch mal so ein Anzeichen, wo ich im Nachhinein denk, typisch ADHS.

Martin Hoffmann: Hast du manchmal das Gefühl, was hätte dir alles erspart werden können, wenn man das früher diagnostiziert hätte?

Corina Elfe: Also diese typische Trauerphase, ich glaube die haben echt viele. Es gibt so eine Euphoriephase und so eine Trauerphase und diese Trauerphase um all das was so passiert ist weil man nicht wusste wie man sich schützen kann auch, die war schon war schon auch hart

Martin Hoffmann: Inwiefern hart? Also was war da das Ausschlaggebende bei dir?

Corina Elfe: Also, ich mach da jetzt gleich ein hartes Thema auf, aber sexuelle Übergriffe zum Beispiel. Und ich kenne inzwischen wirklich so viele autistische und ADHS-neurodivergente Frauen, die genau dasselbe erlebt haben. Und es ist auch wichtig, dass man darüber spricht und dass man das eben nicht für sich behält und sagt, das hat mit dem nichts zu tun, sondern es hat sehr viel damit zu tun. Man neigt ja dazu, sich irgendwie ... Spannende Situationen auszusuchen und dann gerät man viel zu schnell in Dynamiken, die dann nicht mehr zu unterbrechen sind.

Martin Hoffmann: Also nicht kontrollierbar sind auch, weil wahrscheinlich auch sehr jung, in einem sehr jungen Alter alles und ...

Corina Elfe: Das ist schon sehr, sehr vielen passiert, und mir auch. Und das ... Ja, ist schmerzhaft. Und auf der anderen Seite aber auch wichtig, wenn man so ein Tabu ausspricht, über das man nicht gesprochen hat. Denn, weißt du, wenn du dann reflektierst und sagst, na gut, aber ich war ja nicht vorsichtig, ich bin ja zum Beispiel auf diesen Typen zugegangen, oder ich hab ja, dann schreibt man sich selbst ja die Schuld zu.

Martin Hoffmann: Die du definitiv nicht hast. Lass noch mal über die Zeit sprechen, in der du die Diagnose bekommen hast. Nimm uns da mal mit, wie hast du dich gefühlt, also auf einmal, okay, ich sag mal, das Kind hat einen Namen gekriegt auf einmal. Wie ging dir das da?

Corina Elfe: Also tatsächlich schon, als der Verdacht ausgesprochen wurde durch den Psychiater. Ich war gerade in dem Moment in einer psychosomatischen Klinik, weil Burnout, Erschöpfungsdepression. Ich saß da und habe dann plötzlich meine ganzen Themen aufgearbeitet. Und der Psychiator meinte, könnte es denn nicht sein, dass sie ADHS haben? Und dann habe ich gesagt, nee, also hä, wieso? Ich wüsste gar nicht. Und dann kamen die ganzen Klischees raus. Also ich bin noch viel zu sozial und bin jetzt nicht hyperaktiv oder ich bin super strukturiert und überlege mal, ich bin Lehrerin, ich rock das doch alles. Und dann hat er mir aber durchaus so ein paar Dinge beigebracht, die so mit ADHS zu tun haben und fragte mich dann auch, gibt es denn in Ihrer Familie sonst noch jemand, der ADHS hatte? Und ich so, ja, also mein Sohn und mein Bruder und wenn ich so drüber nachdenke, vielleicht auch der andere Bruder. Und dann mussten wir schon ein bisschen lachen. Und ab dem Moment, da war ja noch nicht die Diagnostik dann gelaufen, aber ab dem Moment fing das an, dass in meinem Gehirn ganz viele Puzzleteile sich zusammengesetzt haben. Ja, und das war schon echt erstmal... Ich würde sagen, fast schon lustig. Also ich war so richtig euphorisiert und habe so ganz viele Sachen recherchiert, gelesen. Ich bin so richtig abgetaucht in dieses ganze Thema. Echt spannend.

Martin Hoffmann: Wie lief denn die Diagnostik bei dir? Du hast vorhin gesagt, naja, so Grundschulzeugnisse, da konnte man auch schon viel eigentlich rauslesen.

Corina Elfe: Ja, genau, der Psychiater meinte dann, wir werden auf jeden Fall mal die Diagnostik angehen. Und dadurch, dass ich eben gerade in dieser Klinik war, war klar, das kann man jetzt einfach direkt morgen starten. Also nix Wartezeit oder sonst irgendwas. Und dann sagte er, wenn sie die Möglichkeit haben, vielleicht über ihren Mann oder über ihre Eltern dieses Grundschulzeugnis zu bekommen, dann wäre das natürlich hilfreich. Und dann habe ich tatsächlich die Zeugnisse bekommen, ich habe das gelesen und da war es dann für mich eigentlich schon klar, dass das gar nicht in eine andere Richtung gehen kann.

Martin Hoffmann: Was stand denn da drin?

Corina Elfe: Das waren echt gemeine Texte, also sehr gemein, aber, ach, keine Ahnung. Ein Satz ist zum Beispiel, sie wusste ihren Mitteilungsdrang nicht zu zügeln. Oder sie, so dieses Interessensbasierte war auch ganz klar. Also wenn sie dann interessiert ist, dann kann sie den Unterricht sogar bereichern.

Martin Hoffmann: Das ist schon krass auch formuliert. Wir reden hier über eine Grundschülerin.

Corina Elfe: Ja, wir reden von einer 7-Jährigen, die auch nicht in einem geborgenen Zuhause groß geworden ist.

Martin Hoffmann: Wie war es nach der Diagnose? Was war bei dir dann quasi der Weg?

Corina Elfe: Also bei mir kam dann ein bunter Blumenstrauß an unterschiedlichsten Diagnosen hervor, die alle im Zusammenhang mit ADHS recht typisch sind, also die rezidivierende Depression, die Angststörungen, die posttraumatische Belastungsstörung, Essstörung. Also wie hat es in der Klinik dann gestartet mit ADHS-Therapie? Ja, ich habe direkt Medikamente bekommen. Der Psychiater, der hat ... Mit dem Klassiker angefangen, das klassische Einstiegsmedikament, und hat dann sehr schnell erhöht. Und ich habe sehr schnell gemerkt, dass das für mich zu viel ist, dass es mich überfordert hat. Und dann haben wir noch zwei, drei Mal umgestellt und dann habe ich es wieder gelassen. Das heißt, innerhalb von, ich glaube, drei, vier Wochen, die ich da noch in der Klinik war, nach der Diagnosestellung. Hatte ich schon drei verschiedene Medikamente ausprobiert und wieder eingestellt. Das ist eigentlich Wahnsinn, denke ich, im Nachhinein. Würde man es in der Geschwindigkeit sonst gar nicht machen.

Martin Hoffmann: Heißt das jetzt, dass du gar keine Medikamente nimmst? Aktuell, oder?

Corina Elfe: Ungefähr ein Jahr später habe ich dann hier einen Psychiater gefunden, man muss ja erst mal jemanden finden, der ein Medikament dafür verschreibt. Also am Anfang habe ich mich dann dagegen entschieden, weil die Erfahrungen in der Klinik nicht so schön waren. Und dann habe ich irgendwann gesagt, okay, ich möchte das gerne nochmal probieren. Und ich möchte vor allem auch dieses andere Medikamente probieren, das viele doch besser vertragen als eben das andere oder die anderen, die ich ausprobiert hatte. Und dann habe ich jemanden gefunden und der hat mich dann auf dieses Medikament eingestellt und das nehme ich jetzt inzwischen seit zweieinhalb Jahren oder so.

Martin Hoffmann: Welches ist es?

Corina Elfe: Das ist das Elvanse, das ist Listex-Amphetamin.

Martin Hoffmann: Wie machen sich denn die Symptome aktuell bemerkbar? Und gibt es Situationen, wo du sagst, die verstärken sich sogar noch?

Corina Elfe: Es gibt Situationen, die es sehr deutlich schlimmer machen können oder deutlicher zutage bringen können. Und zwar haben wir gerade eine emotional stark belastende Situation hinter uns. Und diese emotionale Belastung, die damit im Zusammenhang stand, hat dazu geführt, dass ich kaum in der Lage war, zu arbeiten, weil das so präsent war in meinem Kopf, dass offensichtlich alle anderen Aufgaben sich hinten angestellt haben. Ich denke manchmal, mein Kopf ist wie so eine Drängel-Liste, also wie so ne... Gruppe, die in einer Warteschlange steht und dann gibt es immer so einen, der ruft, ich muss jetzt als Nächster, ich bin jetzt der Dringendste und der drängelt sich nach vorne und dann kann ich mich mit dem auch beschäftigen und manchmal sind es fünf, die gleichzeitig schreien, dann kann mich mit gar keinem von denen beschäftigen, weil das einfach zu viel ist und da war es jetzt wirklich so, da stand wie so eine Sperre vorne dran und egal wie laut das hinten dran geschrien hat, ich konnte mich mit nichts anderem beschäftigen.

Martin Hoffmann: Aber wie machst du das in deinem Alltag?

Corina Elfe: Also meine wirklich, glaube ich, effektivste Strategie ist immer dieses Aufschreiben. In kleinen Schritten aufschreiben, was jetzt als nächstes getan werden muss. Und das dann machen. Oder halt auch dieses Ich fange jetzt einfach mal an. Und wenn es nur eine ganz kleine Kleinigkeit ist, die ich jetzt gerade schaffe, dann ist das OK. Aber diese Erlaubnis, sich zu geben, die bringt dann tatsächlich auch, dass man weiter funktionieren kann, weil früher Bevor ich wusste, dass Exekutivfunktionen eingeschränkt sind durch meine ADHS, also das, das ins Tun kommen, obwohl ich gerne tun muss oder möchte, das hat dazu geführt, dass ich so darauf versteift war, Dinge machen zu müssen, dass ich ganz vieles nicht hinbekommen habe. Und jetzt erlaube ich mir auch halt wirklich nur das Minimum zu machen. Und dann funktioniert's meistens sogar besser, dann schaffe ich sogar mehr.

Martin Hoffmann: Du bist Lehrerin, du bist Gymnasiallehrerin und ich finde es einerseits spannend, weil du auch vorhin deine Grundschulzeit beschrieben hast, so ein bisschen die Zeugnisse, erst mal ein spannender Weg, dann selbst Lehrerin auch zu werden. Jetzt aber auch mit der ADHS-Diagnose, welche Rolle spielt ADHS in deinem beruflichen Alltag?

Corina Elfe: Also heute spielt es eine sehr, sehr große Rolle. Ich bin gerade ausgestiegen. Ich bin jetzt quasi in meiner dritten Schulwoche ohne Lehrerin zu sein. Ich habe gekündigt und das hat viel mit meiner ADHS zu tun. Also auf der einen Seite, weil ich weiß, dass ich mit meiner Ausprägung von ADHS, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch mit einem Autismus zu tun hat, das kommt ganz häufig zusammen vor, dass ich nicht so resilient bin, was diese ganzen Themen angeht, die in der Schule stattfinden. Und das sind hauptsächlich emotionale Themen. Das ist genau das, was mir passiert ist als Schülerin, was ich dann jeden Tag in irgendeiner Weise beobachten muss bei anderen Schülern. Wo ich dann denke so, ich kann das nicht mit anschauen, dass die so behandelt werden und dass das so gemacht wird in der Schule. Deswegen bin ich jetzt selbstständig tätig als Fortbildnerin für Lehrkräfte und Eltern im Umgang mit ADHS. Die letzten Jahre aber, nachdem ich aus der Klinik zurückgekommen bin, habe ich mich als Lehrerin sehr stark verändert. Ich habe das Thema – na, ich bin jetzt nicht rumgelaufen und habe allen erzählt, dass ich ADHSlerin bin, aber so ganz gezielt konnte ich es durchaus einsetzen, wenn ich mit einem Schüler oder einer Schülerin gesprochen habe, die gerade Schwierigkeiten hat oder wenn es um psychische Erkrankungen ging, auch da, dass man dann sagen kann, ich verstehe dich wirklich gut. Mir ging es auch so.

Martin Hoffmann: Hast du dann gemerkt, dass ihr sofort eine andere Ebene hattet?

Corina Elfe: Ganz anders. Das war so wichtig für diese jungen Menschen, jemanden da stehen zu haben, der erstens offen damit umgeht. Ich bin ja auch auf Social Media tätig, also es war dann offen damit umgehen und zweitens dann auf einer ganz anderen Ebene versteht, was bei denen los ist.

Martin Hoffmann: Jetzt hast du gesagt, du bist nicht mehr im Schuldienst, du bietest aber professionelle Unterstützung an, gerade für neurodivergente Kinder und für auch die Eltern, glaube ich. Wie gehst du dabei vor? Wie machst du das?

Corina Elfe: Also auch für die Lehrkräfte, mein allererster Weg war eigentlich für die Lehrkräfte was anzubieten. Und dann habe ich auf Social Media angefangen, so ein bisschen Aufklärungsarbeit zu machen. Also du beobachtest das, statt eine Faulheit reinzudeuten, könntest du doch vielleicht auch das reindeuten. Und dann hab ich plötzlich gemerkt, es gibt immer mehr Eltern, die dem zustimmen und die mir folgen und die sagen, hier, endlich spricht das mal jemand aus. Und zwar jemand, der auf der falschen Seite steht. Also diese zwei Fronten, zu Hause und Schule, wenn man ein ADHS-Kind hat, wow. Und ich habe offensichtlich die Elternschaft und die betroffenen Kinder und Jugendlichen vertreten im Gespräch mit den Lehrkräften und das als Lehrkraft. Das hat ganz viele Eltern zu mir gebracht und dann habe ich halt daraus einfach für mich gemerkt, okay, also es braucht offensichtlich auch Angebote für Eltern. Ich habe dann eine Zusatzausbildung gemacht zur psychologischen Beraterin. Ich habe auch den Heilpraktiker für Psychotherapie gemacht. Allerdings habe ich nie die Prüfung am Gesundheitsamt abgeschlossen, weil ich wusste, dann in die Therapie gehe ich nicht. Ich bleibe in der in der Fort- und Ausbildung von Lehrkräften. Und dann ist das einfach so von ganz alleine quasi gewachsen, weil der Bedarf groß ist.

Martin Hoffmann: Jetzt hast du gesagt, du hast angefangen mit Social Media. Du bist da sehr erfolgreich, wenn man das auch mal so sagen darf. Wenn man sich die Klickzahlen anguckt, das geht wirklich in die zig Tausende. Also das ist wirklich sehr, sehr gut. Und man merkt, da ist ein ganz großer Bedarf. Jetzt ist mir auch bei der Recherche aufgefallen. Ich habe natürlich Instagram, TikTok gesehen und immer mal wieder immer wieder reingeschaut. Und es gibt sehr viele gerade bei TikTok diese Selbstdiagnose Videos. Die sind dir ja bestimmt auch begegnet. Was? Was denkst du? Das ist ja schon... Also es trendet ja sogar richtig, was denkst du über sowas?

Corina Elfe: Also, ich muss sagen, ohne Social Media wären einige ziemlich verloren und es hat seine Kehrseite. Also, ich kenne sehr, sehr viele wirklich richtig gute Content-Creator-Innen, die ganz, ganz viel tun, um mit den Klischees rund um ADHS aufzuräumen. Die Leute emotional auffangen, wenn sie im luftleeren Raum schweben und keine Diagnostik finden. Oder, so wie ich zum Beispiel, aus der Klinik rauskommen mit einer frischen Diagnose und dann kommen plötzlich diese ganzen Puzzleteile zusammen und dann ist da niemand, der einen therapeutisch begleitet, weil, so wie bei mir, die Therapeutin dann plötzlich sagt, ach, ADHS, lassen Sie sich das nicht einreden, gibt es alles nicht oder keine Ahnung, dann gibt es niemanden, mit dem man darüber sprechen kann, außer Menschen, die selbst betroffen sind und die sagen, ja, ich kenne das und bei mir war das auch so. Insofern finde ich... Sehr viele, sehr wichtig. Und dann gibt es natürlich immer wieder ein Umkehrproblem, nämlich wenn wir auf Social Media das Ganze nicht vollständig darstellen, sondern halt nur einen Aspekt rausziehen und das zu so einer Art Diagnose Kriterium machen, dann wird es problematisch. Und ich kann auch ganz schnell sagen, wie so was auch bei mir schon passiert ist. Also ich habe zum Beispiel über meine Stifthaltung, über meine Hände gesprochen, war auch so ein Thema. Was mir in meiner eigenen Grundschulzeit nur Schwierigkeiten gemacht hat, weil meine Grundschullehrerin mir eine andere Stifthaltung beibringen wollte. Und dann hat sie immer gesagt, so wie du deinen Stift hältst, so kannst du nicht richtig schreiben und guck dir mal an, wie das hier versaut aussieht und ist alles schrecklich und du drückst so fest und du machst hier. Und ich konnte es nicht ändern. Ich habe mich so arg angestrengt, es ging nicht. Heute weiß ich, ich habe so hypermobile Gelenke, meine Finger.

Martin Hoffmann: Also du verbiegst gerade, muss man dazu sagen, deine Daumen extrem.

Corina Elfe: Ja, genau.

Martin Hoffmann: Ich bin nicht mal ansatzweise in der Nähe.

Corina Elfe: Und ich weiß, dass das etwas ist, diese hypermobilen Gelenke, die sowohl bei ADHS als auch bei Autismus verstärkt vorkommen. Es ist aber kein Diagnosekriterium. Das heißt, es gibt viele Menschen mit hypermobilen Gelenken, die keine ADHS- oder Autismusdiagnose haben und diese auch nie bekommen werden. Nur die Wahrscheinlichkeit, dass du, wenn du ADHS hast und Autismus hast oder beides, dass du dann hypermobile Gelenke hast, ist halt erhöht und das macht Schwierigkeiten. Aber wie willst du ein Video aufziehen, dass das alles so kritisch von allen Seiten beleuchtet?

Martin Hoffmann: Geht ja auch gar nicht, wenn man sich die Algorithmen anschaut und sagt auch, wie das funktioniert. Das ist halt immer kurz, das ist knapp. Du kannst halt in dieser Ausführlichkeit. Das ist das falsche Medium dafür. Also das ist anders gedacht. Jetzt haben wir vorhin gesagt, naja, es gibt viele Mythen, es gibt viele Missverständnisse. Lass uns mal damit vielleicht noch aufräumen irgendwie. Was sind so die drängendsten, wo du sagen musst, hey, das müssen wir jetzt mal auf den Tisch packen.

Corina Elfe: Die Unterscheidung zwischen ADHS und ADS. Das ist, finde ich, ein Mythos, der endlich aus dem Weg geräumt werden muss. Also alle haben ADHS, es gibt drei Untertypen, den hyperaktiven, den unaufmerksamen und den kombinierten Typen. Und der unaufmerksame, das ist der, der früher eine ADS-Diagnose gekriegt hat. Und ich erlebe es, dass eben immer noch so festgehalten wird an dem ADS Begriff, weil der weniger Stigma mit sich bringt als ADHS. Und das scheint den Menschen gut zu gefallen, zu sagen, ich möchte aber nicht eine ADHS-Diagnose, ich möchte eine ADS-Diagnose haben, weil dann, weiß ich nicht, sehen die Menschen meine ADHS nicht als so schlimm an wie deine. Problematisch. Und ja, das wäre eben das zweite Stigma. Du bist nicht hyperaktiv, dann kannst du keine ADHS haben. Die Hyperaktivität, die zeigt sich eben nicht immer. Nach außen, die kann sehr viel im Inneren stattfinden durch Gedankenrasen, durch eine innere Unruhe oder auch durch kleinere Bewegungen. Ganz viele denken, sie sind nicht hyperaktiv, wechseln aber ihre Sitzposition zum Beispiel 50 Mal in der Stunde. Das ist halt schon auch, sich viel bewegen oder die ganze Zeit die Haare eindrehen oder an der Haut rumpicken oder so. Du hast viel erreicht, du kannst keine ADHS haben. Du hast studiert, du bist Lehrerin, wie soll das gehen? Finde ich auch einen absolut schlimmen Mythos, weil das ja signalisiert, dass man ADHS-lern nichts zutraut. Ich kenne so viele wirklich sehr erfolgreiche, die auch sehr erfolgreich durch die Schulzeit gegangen sind, die ja das Problem haben, dass in den Grundschulzeugnissen nichts drinsteht, was sich darauf zurückführen lässt, dass es vielleicht schon in der Kindheit auch eine Diagnose hätte geben können. Ja, viele können das echt lange maskieren, also wegstecken.

Martin Hoffmann: Eigentlich ist die Leistung sogar noch höher einzustufen, weil diese Strategien, diese Vermeidungsstrategien oder damit umzugehen, das kommt ja noch alles on top obendrauf. Also wie du gesagt hast, eine dreifache Kalenderführung, da ein Studium durchzuziehen, das ist ja eigentlich, also eigentlich müsste man sagen, Respekt, noch mehr Respekt als ohnehin schon.

Corina Elfe: Die, die da so zu einem Perfektionismus tendieren, wie ich das gemacht hab, das sind halt die, die sich dann den ganzen Tag zuballern von morgens 8 bis abends 20 Uhr, weil dann ist nie eine Zeit da, in der man mal was vertrödeln könnte. Dann muss man die ganze Zeit von morgens bis abend durch alles durchrauschen, durchplanen, nie zur Ruhe kommen. Da fühlen sich viele wohl, weil eben ganz oft diese Negativ-Dinge, die durch die ADHS da sind, nicht so im... Vordergrund stehen, weil es gar keine Zeit dafür gibt, dass die da sind. Nur macht sie es halt langfristig kaputt. Also irgendwann kommt halt dann doch die Erschöpfungsdepression oder der Burnout. Da sag ich mal, hallo. Ja, war vorauszuschauen bei mir, dass das irgendwann passieren muss.

Martin Hoffmann: Unsere Gesellschaft funktioniert leider nicht, nach dem Wünsch-dir-was-Prinzip. Was wäre so der eine Hauptpunkt, wo du sagst, das müssen wir anpacken?

Corina Elfe: Es gibt eine relativ frische Studie aus den USA, die hat untersucht, welche Faktoren Menschen mit ADHS und Autismus im Bereich Schule im Vergleich zu neurotypischen Nicht-ADHS-lern, Nicht-Autistinnen haben. Und da zeigt sich sehr deutlich, dass die Schule mit der größte Belastungsfaktor ist. Und das wäre das, was ich am liebsten ändern würde. Ich würde so gerne diesen Kindern ersparen, dass sie schon im Alter von zehn Jahren so viel Kritik bekommen haben, dass sie nur noch voll sind mit Selbstzweifeln und mit dem Gefühl von, ich bin einfach nicht in Ordnung. Und das hat viel mit der Schule zu tun, weil da ist einfach der Ort, an dem wir am wenigsten so sein dürfen, wie es so typisch ADHS-mäßig sein müsste. Ja, wir dürfen nicht schneller denken, nicht langsamer denken. Wir dürfen uns nicht die Zeit nehmen, um eine Aufgabe zu bearbeiten, die wir bräuchten. Und wir dürfen nicht uns bewegen, wir dürfen nicht reinrufen, wir dürfen keine Ideen haben, die jetzt um Gottes Willen aus dem Fach ausgehen, weil das geht ja nicht. Wir sind ja jetzt in Deutsch, jetzt kannst du doch nicht über Kunst sprechen. Und das macht, glaube ich, also ich bin fest davon überzeugt, das hinterlässt so tiefe Narben, dass die meisten, die aus der Schule rausgehen, eigentlich erstmal therapiert werden müssen, um die Erlebnisse aus der Schule irgendwie zu verarbeiten. Wenn dann noch ein Zuhause dazukommt, das auch dysfunktional ist, dann wird es ganz schwierig. Und deswegen, also ich wünsche mir sehr, dass wir lernen, mit Kindern und Jugendlichen, die ADHS haben, wirklich respektvoll und verständnisvoll umzugehen.

Martin Hoffmann: Danke, dass du deine Geschichte mit uns geteilt hast.

Corina Elfe: Sehr gerne. Danke für die Einladung.

Martin Hoffmann: Ich muss gestehen, wenn ich die beiden Gespräche noch mal Revue passieren lasse, da war echt einiges dabei, worüber ich noch mal nachdenken muss. Und gerade die Geschichte von Corinna Elfe, also wie viel ihr hätte erspart werden können, wenn die Diagnose früher gestellt worden wäre, also die Anzeichen, die waren ja da. Und wenn ich an Magdalena Bossert denke, dann vor allem an die erfolgsversprechende Therapie, die sie angesprochen hat, also die Kombination aus Medikamenten und Verhaltenstherapie. Auch wenn es da zu Umwegen kommen kann, wie Corinna Elfe beschrieben hat. Wie geht's denn euch gerade? Hattet ihr schon mal mit der Thematik ADHS zu tun? Eher in jungen Jahren oder auch im Erwachsenenalter? Und wenn ja, wie hat sich das gezeigt? Also, wie seid ihr damit umgegangen? Schreibt's gerne mal in die Kommentare und tauscht euch aus. In den Shownotes findet ihr auch wieder Tipps und Links und Anlaufstellen, die uns Magdalena Bossert und Corinna Elfe weitergeleitet haben. Ihr findet aber auch den ADHS-Elterntrainer der AOK. Schaut da gerne mal rein. Vor allem, wenn ihr noch tiefer ins Thema einsteigen möchtet. Wenn euch der Podcast gefällt, gerne abonnieren und eine Bewertung dalassen. Und wenn ihr die letzte Folge durchgehört habt, habt ihr bestimmt gemerkt, wir sind schon echt breit aufgestellt. Trotzdem, wenn ihr Themenvorschläge und Anregungen habt, immer gerne her damit. Entweder direkt unter den Podcast kommentieren oder ihr schreibt uns eine Nachricht bei Instagram @GESUNDNAH heißt hier unser Account. Wir freuen uns, wenn ihr das nächste Mal auch wieder dabei seid. Danke fürs Einschalten. Ich bin Martin Hoffmann. Wir hören uns. GESUNDNAH, der Gesundheitspodcast der AOK Baden-Württemberg.

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