#35 Adipositas bei Kindern: Kleine Körper, große Last.

Shownotes

In Deutschland sind inzwischen rund 15 % der Kinder und Jugendlichen von Adipositas betroffen – und die Zahl steigt weiter. Doch wie können Eltern ihre Kinder effektiv dabei unterstützen, wieder ein gesundes Gewicht zu erreichen? Diese wichtige Frage steht im Mittelpunkt der aktuellen Podcast-Folge. Martin Hoffmann spricht dazu mit Prof. Dr. Woll vom Sportinstitut am KIT über die Bedeutung von Bewegung für Kinder. Im zweiten Teil geht es nach Ulm, wo Prof. Dr. Wabitsch spannende Einblicke zur richtigen Ernährung gibt.

Links zum Thema: Informationen zu Prof. Dr. Alexander Woll, seinen Tätigkeiten und Publikationen findet ihr unter folgendem Link: https://www.ifss.kit.edu/PersonalProfDrAlexanderWoll.php

Hintergründe zur MoMo-Studie findet ihr direkt auf der Website des KIT: https://www.ifss.kit.edu/MoMo/index.php

Lebenslauf, Tätigkeiten und Publikationen von Prof. Dr. Martin Wabitsch gibt es auf der Website des Universitätsklinikums Ulm: https://www.uniklinik-ulm.de/kinder-und-jugendmedizin/team/prof-dr-martin-wabitsch.html

Alle wichtigen Informationen zu Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zusammengefasst, findet ihr auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V.: https://www.dgkj.de/eltern/dgkj-elterninformationen/elterninfo-uebergewicht

Die Definition von Adipositas bei Kindern und Jugendlichen, könnt ihr auf der Website der Deutschen Adipositas Gesellschaft nachlesen: https://adipositas-gesellschaft.de/ueber-adipositas/adipositas-im-kindes-jugendalter/

Wie das Programm „Obeldicks“ aufgebaut und wie die Teilnahmebedingungen aussehen, findet ihr unter diesem Link: https://www.obeldicks-rhein-neckar.de/

Mehr zur Bewegungsempfehlung lest ihr beim Bundesministerium für Gesundheit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5Publikationen/Praevention/Berichte/BMGBestandsaufnahmeBewegungKinderundJugendlicheLangversionbf.pdf

Abonniert GESUNDNAH, um keine Folge zu verpassen. Für noch mehr Wissen und Tipps rund um Gesundheitsthemen folgt uns auch bei Instagram oder Facebook.

Transkript anzeigen

Intro: Unterwegs für die Gesundheit. GESUNDNAH – der Podcast der AOK Baden-Württemberg.

Martin Hoffmann: Fast zwei Millionen Kinder in Deutschland sind übergewichtig und fast die Hälfte davon ist adipös, also fettleibig. Fast die Hälfte. Also ich muss sagen, ich bin wirklich geschockt. Klar habe ich gemerkt, dass in den letzten 20 Jahren die Anzahl der übergewichtigen Kinder immer mehr zunimmt. Aber wenn man mal so die Fakten und die Zahlen hier so schwarz auf weiß hat, dann ist das schon heftig und der Trend, der geht ganz klar nach oben. Ich bin Martin Hoffmann und heute reden wir über Adipositas bei Kindern, über die Folgen, aber natürlich auch vor allem über das, was getan werden kann. Als ich so elf, zwölf Jahre alt war, so kurz vor der Pubertät, hatte ich auch ein paar Kilos zu viel. Also ich war jetzt nicht adipös oder so, aber ich hatte ja deutlich mehr als das Idealgewicht. Und ich weiß genau, wie schwer das ist, so den Alltag zu bestreiten. Du bekommst ja permanent den Spiegel vorgehalten. Heute noch mal deutlich mehr durch Social Media als in der Zeit, als ich jung war. Kinder können manchmal echt fies sein und dass da viele mit Mobbing und Depressionen zu kämpfen haben, ist wirklich nicht verwunderlich. Mal von Herz-Kreislauferkrankungen und Diabetes ganz zu schweigen. Auch wenn es schwierig ist, den Trend umzudrehen, meiner Meinung nach ist es nicht unmöglich. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, sollte wirklich früh gehandelt werden. Aufklärung ist da extrem wichtig. Deswegen heute die Fragen, was bedeutet gesunde Ernährung für Kinder und warum ist Bewegung so wichtig? Ich habe wirklich viele Fragen zu dem Thema. Um alles rund um die Ernährungen zu besprechen, treffe ich mich mit Professor Dr. Martin Wabitsch. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik in Ulm und forscht unter anderem zur Regulation von Wachstum und Gewicht bei Kindern und Jugendlichen, zu Typ 1 Diabetes und zu innovativen, individualisierten Therapien bei Adipositas und Diabetes. Bevor ich aber nach Ulm fahre, geht's für mich ans Karlsruher Institut für Technologie. Am KIT bin ich mit Professor Dr. Alexander Woll abredet. Er leitet das Institut von Sport und Sportwissenschaften. Und untersucht dort seit über 20 Jahren die Alltagsaktivität von Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 17 Jahren. Das sind also beides absolute Experten auf ihrem Gebiet. Ich bin gerade in Karlsruhe angekommen und an der Pforte des KIT hat auch alles geklappt. Man kann hier natürlich nicht einfach so reinfahren, aber der Assistent von Professor Woll hat alles organisiert, jetzt von der Anmeldung bis zum Parken, wirklich direkt vom Sportwissenschaftlichen Institut. Wir haben da das Rundum-Sorglos-Paket bekommen, schon mal danke dafür. Und Professor Woll meinte, ich kann einfach zu ihm ins Büro kommen, Raum 217 und jetzt muss ich nur mal gucken, da vorne, ja, da ist ein Schwimmbad, da sehe ich ein Saunaschild, da geht's rein ins Institut! Also ich bin jetzt gerade im zweiten Stock angekommen. Der Aufzug wird gerade repariert, aber kein Problem. Es geht ja auch um mehr Bewegung. Jetzt muss ich mal kurz schauen. 217, da sind wir. Hallo Herr Woll, hallo.

Prof. Dr. Alexander Woll: Ja, hallo, schön, dass Sie da sind mit Ihrem Team.

Martin Hoffmann: Ja, freut mich. Und dann bauen wir hier kurz auf und dann...

Prof. Dr. Alexander Woll: Gerne, gerne. Und dann sprechen wir über die Zukunft von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.

Martin Hoffmann: So machen wir das. Danke schön. Herr Professor Woll, ab wann spricht man eigentlich bei Kindern medizinisch gesehen jetzt von Übergewicht und wo ist da die Abgrenzung zu Adipositas?

Prof. Dr. Alexander Woll: Ja, also Übergewicht, da haben wir die Normtabellen von Kromeyer-Hauschild, die beruhen auf einer großen Studie, einer bundesweiten Studie und da sind 10 Prozent Normwert technisch übergewichtig, also die 10 Prozent schwersten Kinder sind sozusagen übergewichtigt und ab dem 97. Perzentil, also den oberen 3 Prozent sind dann Adipös. Das war die Grundeinteilung und an der orientieren wir uns, mit der können wir die aktuellen Daten dann vergleichen und entsprechend einordnen.

Martin Hoffmann: Das heißt, man kann eigentlich gar nicht über Körpergröße und Gewicht schon mal per se sagen, ok, das Kind ist jetzt übergewichtig, sondern es kommt immer auf auf quasi die Gesamtheit der Kinder an und dann auf die oberen 10 Prozent.

Prof. Dr. Alexander Woll: Ja, das ist die Vergleichsstichprobe, die Ursprüngliche. Die ist aus dem Jahr 2000, 2003. Und wenn wir jetzt im Jahr 2025 Kinder untersuchen, dann haben die ihre Gewichtswerte und ihre Größe, dann können wir sie einordnen. Das heißt, wie viel Prozent würden in die obersten 10 Prozent damals fallen? Und da sehen wir natürlich, dass heute mehr Kinder übergewichtig sind. Je nach Studie, die wir heranziehen, in Deutschland 15 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtigt. Und weltweit ist das Thema explodiert. Das ist vielleicht auch noch mal ein ganz wichtiger Punkt. Weltweit ist es explodieren. Hat sich fast verdoppelt, der Anteil der Kinder und Jugendlichen. Da gibt es eine aktuelle Studie von Bert und Kollegen aus diesem Jahr, die zeigen eine Verdopplung von Kindern und Jugendliche weltweit im Bereich des Übergewichtes.

Martin Hoffmann: Und wenn ich die Zahlen richtig verstanden habe, dann sind Kinder, die unter Adipositas leiden, in dieser Gruppe, dann ist das auch nochmal deutlich nach oben gegangen.

Prof. Dr. Alexander Woll: Diese Gruppe hat sich ungefähr verdoppelt. Also im Jahr 2001, aus der Zeit stammen die Kromeyer-Hauschild-Daten für Deutschland, lag es bei 3% per definitionem. Heute sind wir wahrscheinlich ungefähr bei der doppelten Zahl, 6-7% der Kinder, die tatsächlich adipös sind, also krankhaft übergewichtig.

Martin Hoffmann: Was würden Sie denn sagen, sind die häufigsten Ursachen für Adipositas?

Prof. Dr. Alexander Woll: Also die häufigsten Ursachen sind eben Bewegungsmangel und zu viel Energiezufuhr. Und bei der Energiezufuhre vor allem das Thema süße Getränke. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ein extremes Problem. Gesüßte Getränken. So viel können die gar nicht essen, was sie da an Kalorien zuführen mit dem Zucker, der in den Getränken drin ist. Also von daher gesehen, sicherlich die Süßgetränke sind mit das größte Problem bei den Kindern. Und die fehlende Alltagsbewegung, ich sage ganz bewusst Alltagesbewegungen. Weil wenn wir uns angucken, haben wir fast eine paradoxische Situation. Es waren noch nie so viele Kinder im Sportverein. Es haben noch nie so viele Kinder Wettkampfsport gemacht. Wir können noch sagen, ist alles gut. Was hat sich verändert? Es hat sich die Alltagsbewegung verändert. Wir haben weniger Alltagsbewegung. Wir haben weniger Kinder... Es erreichen gerade mal 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen ungefähr die Bewegungsempfehlungen der WHO und die liegen bei einer Stunde pro Tag. Also eine Stunde körperliche Aktivität pro Tag, die Latte ist gar nicht so hoch.

Martin Hoffmann: Was heißt denn körperliche Aktivität?

Prof. Dr. Alexander Woll: Körpertliche Aktivität heißt, das geht gar nicht nur um Sport, sondern es geht auch mit dem Fahrrad zur Schule fahren oder intensiver spielen. Ein wichtiges qualitatives Kriterium dabei ist, dass ich ein bisschen zumindest ins Schwitzen komme, dass sich außer Atem komme, dass ich also so eine gewisse Intensität der Bewegung habe, das ist ganz entscheidend dafür. Und da sollte es eine Stunde mindestens pro Tag sein und das erreichen, wir haben jetzt gerade wieder aktuelle Daten, ungefähr 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland.

Martin Hoffmann: Schon erschreckend eigentlich. Welche langfristigen gesundheitlichen Folgen hat denn Adipositas für Kinder?

Prof. Dr. Alexander Woll: Leider Gottes steigen Kinder damit häufig auch in eine Negativspirale ein. Gesundheitliche Negativspirale. Natürlich auf der einen Seite körperlich. Das Risiko erhöht sich für Diabetes mellitus, für andere Stoffwechselerkrankungen. Auf der körperlichen Ebene viele Folgererkrankung. Es geht ja bis zum Stütz- und Bewegungsapparat. Sie können sich überlegen, wenn Sie in 1,70 m groß sind und 100 Kilo wiegen, dann haben Sie eine viel größere Belastung auf Ihren Gelenken. Auf dem Stützapparat, Herz-Kreislauf. Also von daher gesehen, es fällt Ihnen alles schwerer. Es fällt Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes schwerer. Sie müssen eine Last, eine zusätzliche Last tragen, die Sie jeden Tag mit sich schleppen, in jedem Moment. Und auf der anderen Seite gibt es auch eine Reihe von Studien, die zeigen, dass auch psychosoziale Störungen einhergehen. Manchmal ist nicht so ganz klar, was ist Henne und Ei? Also was ist Ursache? Übergewicht Ergebnis von psychischen Problemen oder ist es die Ursache dafür, die Kausalität? Beides am ende im Grunde genommen, es bedingen sich die zwei Prozesse so ein Stück weit gegenseitig. Also es entsteht so eine negative Spirale. Ich habe ein schlechteres Körperbild, ein schlechteres Selbstbild von mir. Ich ziehe mich zurück. Wir sehen ganz deutlich, dass übergewichtige Kinder häufig mehr Depressionen haben. Und das hat was mit dem inneren Rückzug, mit dem sich nicht zeigen wollen zu tun. Und verstärkt sich dann auch teilweise im Sozialverhalten, dass sie sich auch zurückziehen aus Gruppen. Also von daher gesehen, wir haben nicht nur eine körperliche Seite dieser Facette, sondern wir haben natürlich ganz stark auch psychosoziale Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt, wenn wir über das Thema sprechen.

Martin Hoffmann: Welchen Einfluss, würden Sie sagen, haben die sozialen Medien, Beispiel jetzt Instagram, TikTok, also die auch wirklich sehr, sehr stark genutzt werden von den jungen Leuten, auf Körperbild und auf das Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen?

Prof. Dr. Alexander Woll: Ich will es nicht verteufeln. Also ich kann jetzt heute nicht hierhergehen und sagen, ach, ganz schlimm, die bösen Medien, das wäre zu einfach. So kurz kann man das nicht betrachten, sondern wir haben das Problem. Und da müssen wir uns auch Gedanken machen, wie wir das Thema einfangen können, dass natürlich fragwürdige Körperbilder transportiert werden, dass die Inszenierung von Menschen im Internet dann auch mit Hilfe von Technik geschönt ist. Photoshop, Körperbilder, also einfach Menschenbilder die gar nicht erreichbar sind, die unwirklich sind, die künstlich sind und wir haben natürlich momentan eine riesen Bewegung und die geht über die ganze Lebensspanne. Die Optimierung des Menschen, das Enhancement, das immer mehr erweitern wollen und das steigern wollen. Und das hängt natürlich auf viele ab. Und führt gerade dazu, dass natürlich Kinder und Jugendliche denken, ich bin diesem Ideal nicht gewachsen. Ich mache mal ein Beispiel, gerade Mädchen haben damit häufig ein noch größeres Problem. Wir stellen zum Beispiel jetzt gerade bei unseren aktuellen Daten aus der Momo-Studie fest, dass bei Mädchen so zwischen 11 und 13 das Thema Untergewicht fast so ein großes Problem ist wie Übergewicht. Sie eifern einem Schönheitsideal nach. Sie machen spezielle Ernährungsgewohnheiten, Diäten, um diesem Bild gerecht zu werden und das führt zu einem riesigen psychischen Druck, der häufig dann sogar gar nicht kommuniziert wird, weil er nur in der virtuellen Welt stattfindet. Und das sind natürlich riesen Themen, die negativ sind. Auf der anderen Seite, vielleicht auch mal die positive Seite, wir haben auch festgestellt, wir machen auch digitale Interventionsprogramme, um die Kinder dort abzuholen, wo sie sind. Was nützt das, das zu verteufeln? Wir müssen in die Welt gehen, in die Realität der Kinder, müssen sie dort abholen. Und sehen auch, dass man mit digitalen Bewegungsprogrammen teilweise auch Kinder erreichen kann, die man mit normalen Vereinsangeboten leider gar nicht erreicht. Also dieses Zuhause trainieren vielleicht in eigenen vier Wänden mit dem digitalen Avatar, der einem anleitet sozusagen, wo ich mich nicht anderen präsentieren muss. Spielt für manche Zielgruppen, übrigens gerade für übergewichtige Kinder, da ist es durchaus ein Thema. Die wollen sich teilweise nicht so präsentaieren. Und dann ist so dieses Home-Fitness in den eigenen vier Wänden, vielleicht auch im geschützten Bereich, für einiges sogar der Einstieg in mehr Bewegung.

Martin Hoffmann: Was eignet sich denn besonders gut, um Kinder wieder so die Freude an der Bewegung zu vermitteln?

Prof. Dr. Alexander Woll: Ich würde einen Schritt weiter vorne anfangen wollen. Wir müssen gesellschaftlich verhindern, dass die Kinder überhaupt in die Situation kommen. Wir müssen sie besser schützen. Was meine ich damit? Wir brauchen dringend so was wie eine Zuckersteuer und gesetzliche Regelungen für dieses Thema. Wir bräuchten eigentlich genauso ein Gesetz, dass jedes Kind ein Recht auf eine Stunde Bewegung am Tag hat. Wir wissen, dass das das Minimum ist, das Notwendige ist und wir haben aber keine, ich nenne es mal, politische Handhabe zu sagen, wir müssen diese tägliche Sportstunde beispielsweise haben, wo wir alle wissen, die wäre sinnvoll. Aber die konkurriert mit vielen anderen Interessen. Unsere Daten zeigen, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von über 70 Prozent aus einem übergewichtigen Kind dann ein übergewichtigter Erwachsener wird.

Martin Hoffmann: Wie kriegen wir es denn hin, dann trotzdem mit Bewegungsangeboten die Kinder wieder, ich sage jetzt mal, den Spaß an Bewegung zu vermitteln? Was würden Sie da empfehlen?

Prof. Dr. Alexander Woll: Also das muss man Kindern gar nicht vermitteln, weil Kinder haben eigentlich Spaß an Bewegung. Wir erziehen in Bewegung von Anfang an ab. Das geht eigentlich los im Kindergarten, im Elternhaus. Ruhig sitzen, still sitzen, beim Essen. Und wir erziehen eigentlich systematisch in eine Sitzgesellschaft. Wir sind eine klassische Sitz-Gesellschaft. Und dieses Denken müsste einfach, da müsste der Schalter umgekippt werden. Das wir sagen, also wir werden zu einer Bewegungsgesellschaft, wir müssen uns bewegen. Warum müssen wir es überhaupt? Die Frage haben wir noch gar nicht diskutiert, fällt mir gerade aus. Unser genetisches Programm ist immer noch der Jäger und Sammler. Die technische Entwicklung hat sich weiterentwickelt, aber unser gesamter Körperaufbau und die Prozesse, die bei uns ablaufen, wir sind immer noch drauf ausgelegt. Eigentlich jeden Tag können wir gut 10 bis 20 Kilometer laufen. Das sollten wir auch tun, um unseren Stoffwechsel... Also da kommen auch teilweise die 10.000 oder manchmal auch nur 5.000 Schritte pro Tag her. Unser System braucht Bewegung, um sich gesund zu entwickeln oder im Erwachsenenalter gesund zu bleiben. Weil die Stoffwechselprozesse davon abhängig sind und auch die Qualität der Stoffwechselprozessen, die Aufbauprozesse von Muskulatur, Skelettsystem, also wir brauchen Bewegung. Bewegung ist der Schlüssel. Bei Kindern ist es wichtig, dass man sie positiv fördert und sie dort abholt, was sie interessiert. Das heißt, sie müssen die Motive von Kindern kennen. Es gibt natürlich eine gewisse Gruppe, die sind sehr leistungsorientiert, bewegen sich aufgrund des Leistungsmotivs. Andere Kinder sind eher im sozialen Miteinander interessiert und bewegen sich, weil ihre Freunde sich bewegen. Was heißt das für die Umsetzung? Wir haben lange Jahre auch einen Sportunterricht gehabt, der sehr in Richtung Leistung orientiert war. Heute moderner Sportuntericht, da ist mehr perspektivisch, da versucht Fitnessförderung, Gesundheitsperspektive, Leistungsperspektive den Kindern einfach eine Möglichkeit zu geben, die Aspekte auszusuchen, die für sehr relevant sind, um dann möglichst viele zu erreichen. Um dieses Ziel lebenslanges Bewegen, lebenslanges Sporttreiben für mehr Kinder zu ermöglichen. Wir haben lange Zeit auch so dieses Thema gehabt, jeder soll alles ein bisschen ausprobieren. Das ist auch sinnvoll. Aber wir haben festgestellt aus Studien, dass wir auch gucken müssen, dass Kinder etwas können. Also das ist in den letzten Jahren eher in den Hintergrund gerückt, aber es gibt jetzt gerade ein paar ganz aktuelle Studien, die zeigen es sehr genau. Kinder bleiben eher bei einer Aktivität, wenn sie auch irgendwas können.

Martin Hoffmann: Ja, weil es mehr Spaß macht und man Erfolgserlebnisse sieht, oder?

Prof. Dr. Alexander Woll: Genau, und das ist wichtig, und da sind wir auch bei den Eltern. Kinder neigen dazu natürlich auch mal schnell zu sagen, ach Gott, macht keinen Spaß, ich mach lieber was anderes oder gar nichts. Und Eltern haben für mich die ganz wichtige Rolle, dass sie zum einen Vorbild sind selber in ihrem Aktivitätsverhalten. Das bringt relativ wenig zu sagen ich sitze auf der Couch und sag zum Kind geh raus und spielen, weil das ist ja gesund für dich und ich sitz auf der Couch und trinke mein Bier und sitz vorm Fernseher. Also da sind Eltern ganz wichtig. Das zeigen auch Studien, die wir gemacht haben, dass also das Elternverhalten für das Kindverhalten ganz wichtig ist, vor allem für die Gruppe unter 11 Jahren. Dann ab 12 muss man sagen, da müssen die Kinder dann schon die richtigen Freunde haben, würde ich jetzt mal sagen, die sich schon bewegen. Weil da ist die sogenannte Peer Group, die Freundesgruppe dann entscheiden. Sind die auch aktiv, sind die auch unterwegs, was machen die? Wenn jemand in so einer Gruppe ist, dann wird er sich eher auf die Dauer bewegen, wie wenn er in einer Gruppe ist, wo nur gechillt wird, wie man das so schön sagen würde.

Martin Hoffmann: Noch eine kurze Frage zu den Eltern, und zwar vorleben, haben sie gerade gesagt. Also vielleicht auch mit den Kindern zusammen Sport machen. Ich stelle es mir aber auch, ich sage es mal schwierig vor, dass ohne Druck irgendwie, also ohne dass man da Druck irgendwie aufbaut und Scham auslöst, irgendwie sowas. Gibt es da noch mal ein Tipp, den Sie vielleicht für die Eltern haben?

Prof. Dr. Alexander Woll: Also wichtig ist der Motivcheck, das was ich vorhin gesagt habe. Motivcheck heißt tatsächlich zu wissen, was macht denn das Kind gern? Also zu sagen, du musst schwimmen gehen, wenn ich Wasser hasse und kaltes Wasser hasse, nur weil die Mama gern schwimmt, ist das vielleicht nicht der richtige Weg. Also ich muss wissen, was macht ein Kind gerne und dann muss ich es natürlich auch positiv verstärken. Ich muss mich dafür interessieren, was es tut. Also so nach dem Motto, ich gebe die Kinder ab und hole sie wieder. Das ist kein guter Zugang, sondern ich muss fragen, was war denn? Was hast du vielleicht heute Neues gelernt? Was hat dir denn besonders viel Spaß gemacht? Ich muss Interesse daran zeigen zum einen und, deswegen haben wir in dem Bereich leider auch häufig auch in Sozialgradienten, ich muss auch Ressourcen zur Verfügung stellen, indem ich Kinder vielleicht mal irgendwo hinbringe, mit ihnen mitgehe, ich muss zumindest zeitliche Ressourcen investieren..

Martin Hoffmann: Kostet Zeit, kostet Geld teilweise.

Prof. Dr. Alexander Woll: Zumindest Zeit kostet es und manchmal auch Geld. Deswegen haben wir da auch häufig eben so einen gewissen Sozialgradienten drin, dass es da Unterschiede gibt. Aber das muss man investieren. Das geht von gemeinsam spielen, bewegen, laufen, zur Schule bringen mit dem Fahrrad oder gemeinsam dahinfahren oder der Walking-Bus mit den Kindern dahin zu gehen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Es gibt keine Ausreden für Eltern.

Martin Hoffmann: Wenn wir uns, ich sag es mal, in fünf bis zehn Jahren wieder zusammensetzen und wieder über das Thema Adipositas bei Kindern sprechen, wo stehen wir dann?

Prof. Dr. Alexander Woll: Es gibt verschiedene Szenarien. Aber ich glaube, die ganze Entwicklung, auch getrieben durch das Thema planetare Gesundheit, also was machen wir für unseren Planeten, Nachhaltigkeit, kommen so Themen wie aktiver Transport, aktive körperliche Mobilität, die werden immer wichtiger werden. Von daher gesehen glaube ich schon, dass wir eine aktivere Gesellschaft werden. Ich glaube auch, dass wir von dem Zucker-Thema und Übergewichtsthema ein bisschen runterkommen. Nichtsdestotrotz wird es immer eine Herausforderung bleiben. Also es wird nicht so sein, dass alle Themen weg sind, sondern wir müssen als Gesellschaft, so wie wir jetzt auch gesagt haben, wir müssen ein paar Schwerpunkte setzen, auch in der politischen Agenda. Also wenn das, ja, wenn the Länd Baden-Württemberg Bewegungs-Länd werden möchte, dann heißt es aber, ich muss mehr investieren in Lehrerausbildung, ich muss genügend Sportlehrer haben, ich muß genügend Möglichkeiten haben. Weil nur in den Bildungsinstitutionen erreiche ich sie.

Martin Hoffmann: Also, da liegen noch viele Baustellen, viele Herausforderungen vor uns. Aber ich gucke jetzt ein bisschen positiver in die Zukunft, was das angeht. Professor Woll, vielen, vielen Dank Ihnen. Danke schön.

Prof. Dr. Alexander Woll: Gern geschehen.

Martin Hoffmann: Die Ursachen von massivem Übergewicht sind vielschichtig, wie Professor Woll gerade gesagt hat. Aber klar ist, Social Media ist doppelt schlimm. Auf der einen Seite verbringen Kinder und Jugendliche viel Zeit am Handy und bewegen sich deutlich weniger als noch vor 10, 15 Jahren. Und gleichzeitig kriegen sie über Instagram und TikTok gefakte und gephotoshoppte Körper präsentiert, die die eigene Wahrnehmung total verzerren. Und das auch noch im Sekundentakt. Jetzt geht es für mich über die A8 nach Ulm und ich bin ganz froh, dass ich jetzt zwei Stunden im Auto sitze. Ich muss das Gespräch erst mal sacken lassen. Mit Professor Wabitsch von der Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Ulm will ich über Ernährung sprechen, die ist nämlich zentral. Mein Basketballjugendtrainer, der hat früher immer gesagt, you can't outwork a bad diet. Du kannst also eine schlechte Ernährungen nicht durch Training kompensieren. Und wenn sich das Gewicht also langfristig auf einem gesunden Level einpendeln soll, dann müssen beim Essen die Stellschrauben angepasst werden. So, ich bin jetzt in Ulm angekommen. Frauensteige 14 ist die Adresse. Haus 18, Klinik für Kinder und Jugendmedizin. Professor Wabitsch hat gemeint, das Erdgeschoss, der Eingang, der ist offen. Da bin ich jetzt gerade rein. Jetzt geht's Treppenhaus nach oben ins erste OG. Und da hat er gesagt, soll ich einfach kurz klingeln. Und dann können wir uns direkt zum Gespräch setzen. Ich gucke mal kurz auf die Uhr. Jetzt 13 Uhr, also zeitlich bin ich auch ganz gut drin. Das sollte eigentlich passen.

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Guten Tag, Herr Hoffmann.

Martin Hoffmann: Professor Wabitsch, hallo. Herr Professor Wabitsch. Eine Ihrer Thesen ist, dass Adipositas stark biologisch geprägt sei. Was bedeutet das genau? Stark biologisch geprägt?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Das bedeutet, dass Adipositas ein Ausdruck ist einer Fehlregulation der Körperfettmasse, die im Wesentlichen durch biologische, hormonelle Faktoren ausgelöst wird. Adipositas ist kein Versagen der Willenskraft, ist auch kein Resultat von Bequemlichkeit. Adipositas ist auch keine Überernährung, sondern es ist eine über das normale Maß hinausgehende Vermehrung der Körperfettmasse.

Martin Hoffmann: Bedeutet das dann quasi, dass es hormonelle Schwankungen da auch noch mal gibt und dass die Genetik da eine besondere Rolle spielt?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Die biologische Grundlage der Adipositas besteht aus den Erbinformationen und den Lebensbedingungen, unter denen die Kinder heute aufwachsen. Also wenn ich eine bestimmte Anlage habe, dann werde ich immer schlank bleiben, egal ob ich jetzt in Äthiopien lebe und mich jeden Tag 10 Kilometer bewegen muss, weil ich sonst nichts zu essen habe oder ob ich in den USA lebe, wo ich so mitten in der Fast-Food-Kette eigentlich gar nichts mehr tun muss, nur noch den Mund aufmachen muss. Da gibt es Menschen, die immer schlank bleiben und andere, die je nachdem, wenn ich jetzt auf die Kinder mich beziehe, wie die Kinder aufwachsen, wo sie aufwachen, dann ganz, ganz deutlich an Fettmasse zunehmen. Das hängt ab von der Lebensbedingung, also wo Kinder aufwachsen, wo die leben. Und es hängt ab von der genetischen Anlage.

Martin Hoffmann: Mit welchem Stigma sind dann stark übergewichtige Kinder konfrontiert? Also was macht es mit den Kindern?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Das ist ein ganz wichtiges Thema, wenn nicht sogar das Allerwichtigste, wenn wir über Adipositas bei Kindern sprechen, dann ist es die Stigmatisierung, die diese jungen Menschen in unserer Gesellschaft erfahren und auch die Diskriminierung. Beides trägt zum Leidensdruck und zur Krankheitsbelastung mit bei und wir wissen zum Beispiel, dass Kinder, Schulkinder, die eine Adipositas haben, die mit Adipositas leben, eine vergleichbare schlechte Lebensqualität haben wie ein Kind, das in einer onkologischen Abteilung mit einer Krebserkrankung behandelt wird. Da gibt es Daten dazu, das kann man objektiv feststellen mit Fragebögen. Das weiß kaum jemand und man bekommt das auch nur raus, jetzt ohne Fragebogen, wenn man sich Zeit nimmt und mit den Kindern auch spricht und mit Jugendlichen spricht, möglichst ohne die Eltern eine Zeit lang, dann sieht man wie schwer die leiden unter ihrer Adipositas. Und das fängt an in der sozialen Gruppe, Kindergarten schon, in der Schule und dann auch in der eigenen Familie. Wie oft wird da am Abend gesagt, iss nicht so viel, hast du dich heute schon bewegt und was machst du mit deinem Taschengeld und jetzt sitzt du schon wieder vor dem Bildschirm, geh doch mal raus. Und das machen die eigenen Eltern und die Lehrer werden es machen, die Sportlehrer. Die Gesellschaft insgesamt, wenn dann so Kinder in der Stadt sind, wie wird auf sie geschaut, wie schnell ist man mit einem Urteil da und dann letztlich auch wir selber im medizinischen System. Ich schließe die Krankenkassen mit ein und ich denke, die AOK ist der Vorreiter und wird sowas auch unterstützen. Wir alle müssen Obacht geben, dass wir fair auf der Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse mit diesen Kindern umgehen und Adipositas als chronische Krankheit sehen, das ist kein Risikofaktor. Es ist eine Krankheit, die auf der Basis einer Fehlregulation der Körperfettmasse entsteht und die ihrerseits zu Folgekrankheiten führt. Aber Adipositas selber ist schon bei Kindern eine chronische Krankheit, die als solches auch diagnostiziert wird und behandelt werden soll.

Martin Hoffmann: Jetzt hatten Sie gerade das Beispiel von dem Abendessen. Familie sitzt da und dann sagen vielleicht die Eltern, ach, iss jetzt nicht so viel. Wie oder welche Rolle spielt denn, ich sage mal, familiäre Vorbilder auch in Bezug auf Essverhalten? Weil ich habe jetzt in der Recherche zum Beispiel gesehen, dass es sehr oft auch ist, dass die Eltern bereits übergewichtig sind und dann Übergewichtige oder adipöse Kinder dann auch zum Beispiel an dem Tisch sitzen und mitessen und da gleich noch diese Gegenfrage angestellt. Wie oft ist es so, dass Eltern oder die anderen in der Familie normal gewichtig sind, und dann eins der Kinder vielleicht Adipös ist?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Eine kleine Anmerkung, wir sprechen nicht von adipösen Kindern, sondern wir nehmen People's First Language oder besser noch Patience First Language. Das heißt, ich nehme keine Begriffe, die eine Urteil implementieren, sondern ich spreche von Kindern, die mit Adipositas leben. Weil die andere Formulierung oder etliche andere Formulierungen haben ab und gleich wieder das Stigma. Die Familie? Ja, auch da gilt es zunächst, die Biologie wieder zu beachten. Und da ist es so, dass die Anlage, die zu einer Fehlfunktion der Körperfettmassenregulation führt, natürlich auch bei den Eltern bestehen kann. Und wenn beide Eltern betroffen sind, das sich sogar bei einem Kind dann verstärken kann. Das sind dann wieder biologische oder sogar angeborene Faktoren. Und dann ist es natürlich der Lebensstil in einer Familie. Und jetzt kommen wir auf das zu sprechen, was die Umgebung betrifft, unter denen Kinder aufwachsen. Und das ist natürlich zunächst die Familie. Wie wird in der Familie der Alltag gestaltet? Wie viel Raum ist da für Gespräche, für Interaktion? Wie viel Raum ist da für Bewegung und wie wird die Ernährung gestaltet in einer Familie? Das ist natürlich das A und das O. Und wir wissen, dass wir im Rahmen dieser starken biologischen Regulation der Körperfettmasse doch einen Teil selber verantworten und beeinflussen können. Und das ist der Lebensstil. Und wenn wir von Lebensstils sprechen in Bezug auf Adipositas, dann ist ein kleiner Teil durch das Individuum, durch die Familie veränderbar. Und der sehr weit größere Teil, das ist unsere Gesellschaft. Ist nicht veränderbar durch das Individuum, auch nicht durch den Arzt. Ich spreche von den Radwegen, die wir nicht haben, von den sicheren Schulwegen. Ich sprech von den fehlenden Bewegungs- und Sportstunden in der Schule. Ich sprech von den Nahrungsmittelangeboten an den Schulen. Ich spreche von der Werbung, die vor allem an Kinder und Familien gerichtet wird, die natürlich fördernd ist für die Entstehung von Adipositas. Die Dinge, die können wir alle nicht beeinflussen, auch die Preise nicht, die wir bezahlen, wenn wir einkaufen gehen. Gesunde Nahrung ist teurer als ungesunde Nahrungen. Und das alles können wir nicht beeinflusen, aber wir können beeinflussend was am Abendessen, im Wohnzimmer oder im Esszimmer, in der Küche auf den Tisch kommt und das ist ja auch das Ziel der Lebensstilprogramme, sprich Obeldicks oder andere Programme, die wir anbieten, da wollen wir genau dort ran. Wir wollen an diese kleinen Teilen, den wir beeinflussen können, da wollen wir die Familien so fit machen, dass sie das auch im Alltag umsetzen können.

Martin Hoffmann: Die AOK Baden-Württemberg übernimmt ja die Kosten für dieses Schulungsprogramm auch. Was hat es denn genau mit Obeldicks auf sich, was ist es genau für ein Programm?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Also es ist ein Name für ein Schulungsprogramm, für ein verhaltenstherapeutisch basiertes Interventionsprogramm für Kinder, die mit Adipositas leben und deren Familien. Es ist ein evidenzbasiertes Programm, das heißt es basiert auf kontrollierten, randomisierten Studien. Das heißt, wir wissen die einzelnen Elemente, die wir einbauen in ein Programm, die sind geprüft in einer klinischen Studie, wie ein Medikament. Also wir wissen, die ist wirksam in der Summe. Wir wissen auch was über die Zeit, die wir brauchen. Also es reichen jetzt zum Beispiel keine fünf Termine für Ernährungsberatung, sondern es muss immer ein kombiniertes Programm sein mit Bewegungsberatern, Ernährungberatungen, Gruppen, die zusammenkommen für Bewegung, gemeinsames Kochen, Elternschulung. Psychologische Unterstützung, das alles ist Teil des Programms und wir brauchen mindestens ein halbes Jahr, besser ein Jahr an Dauer, um eine nachhaltige Veränderung des Lebensstils in einer Familie zu bewirken. Da gibt es eine Dosis-Wirkungsbeziehung. Deswegen ist das Programm auch ziemlich aufwendig. Es sind also viele Termine, ein bis zwei pro Woche. Und dieses Programm dürfen wir schon viele Jahre hier anbieten dank der offenen Tür, die wir bei der AOK Baden-Württemberg haben. Die waren die ersten, andere sind danach gezogen, dieses Programm zu finanzieren außerhalb des Budgets einer Klinik, das ist auch wichtig zu bemerken, das heißt die Krankenkasse unterstützt, finanziert ein wirksames Programm, das wir hier anbieten dürfen hier in Ulm.

Martin Hoffmann: Wirtschaftliche Faktoren bei der Entstehung von Adipositas, wie hoch sind die?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Ja, ist es schon so, dass wenn wir zum Beispiel hier unser Programm anbieten, die Mama, die berufstätig ist, kein Auto hat und 20 Kilometer weg wohnt von unserem Zentrum, sagt sie, sie kann leider an diesem Programm mit ihrer Tochter nicht teilnehmen, weil sie wird es nicht schaffen, zweimal die Woche hierher zu kommen und ihre Tochter herzubringen und sie wieder abzuholen. Also ganz einfach, ganz praktische Dinge, wo man erkennt, dass da große Barrieren sind, wenn ich nicht so viel Geld habe. Und wenn ich es nicht so leicht habe im Leben. Das ist nur ein Beispiel und die Auswahl der Nahrung ist auch so. Also viele Eltern haben keine Zeit zu kochen. Oder nehmen sich nicht die Zeit in Klammern gesetzt. Aber ich glaube, es gibt auch wirklich viele, die keine Zeit haben. Die können nicht auf den Markt gehen am Mittwochnachmittag, weil sie da arbeiten müssen. Und die können auch nicht am Abend eine Stunde lang Gemüse schneiden und es zubereiten, dass es dann schmackhaft ist und auf den Tisch kommt, sondern die müssen halt tatsächlich in den Supermarkt gehen und kurz vor der Heimkehr mal schnell ein Fertigprodukt kaufen, die in der Regel alle nicht zu empfehlen sind und das dann auf den Tisch bringen. Ganz praktische Dinge. Also insofern legt sich das einem nahe, dass da eine Kausalität vorliegt. Und dann das Umsetzen und das Erreichen eines komplett neuen Lebensstils. Der muss grundlegend verändert werden. Also da muss eine Stunde Bewegung am Tag rein. Da muss die Nahrung komplett umgestellt werden. Da muss auch der Fernseher am besten verkauft werden. Das ist wirklich sehr wirksam übrigens, und das sind alles so Maßnahmen, die dann bestimmte Familien, weil sie so viele andere Baustellen haben, einfach die Kraft dazu nicht haben. Und da kommen dann tatsächlich die neuen Medikamente in Frage und ins Spiel, von denen wir wissen, dass sie genau dort ansetzen, nämlich im Hypotalamus auf dieser Regulationsebene, wo Hunger-, Sättigung-, Energiehomöstaatse, Fettmasse gesteuert werden. Und wenn es möglich sein wird, in ein paar Jahren für ausgewählte Kinder und Jugendliche diese Medikamente einzusetzen, dann können wir auch solchen Kindern helfen. Weil dann können sehr früh, sehr früh dort, wo letztlich die Entscheidung getroffen wird, wie hoch meine Fettmasse ist, sehr früh ansetzen. Und das, was die Lebensbedingungen leider bei vielen auslösen, können wir gegen regulieren durch ein Medikament, das relativ gut verträglich ist.

Martin Hoffmann: Wenn wir jetzt genau über solche Kinder sprechen, die sind ja in so einem Teufelskreis eigentlich drin. Und da ist ja, ich sag jetzt mal, Frustessen oder emotionales Essen spielt ja da auch eine große Rolle. Wie kann man da diesen Umgang lernen oder wie kommt man aus diesem Teufelkreis wieder raus?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Das ist schon auch Teil auch des Programms. Das Programm wird ja im Wesentlichen in Gruppen durchgeführt und bei den Kindern, wo wir dann so Frustessen oder auch emotionales Essen feststellen bis hin zum Binge-Eating, da haben wir dann Einzeltermine auch mit der Psychologin, die bei uns im Team arbeitet, um auch hier wieder verhaltenstherapeutisch Wege zu finden, wie in solchen Situationen ein gewisser Schutz aufgebaut werden kann und Prävention betrieben werden kann. Was immer funktioniert ist, Schuhe anziehen, Jacke anziehen und raus in die frische Luft und halt nicht alleine, sondern mit einem Kumpel oder mit Papa, Mama Fußball spielen oder tanzen gehen.

Martin Hoffmann: Wie sieht denn konkret eine, ich sage jetzt mal, eine ausgewogene, eine gesunde Ernährung für Kinder aus?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Also viel frische Produkte. Viel Gemüse, viel Obst bei den Getränken, möglichst Getränke ohne Energie drin, möglichst auch Getränke, die nicht Süßstoffe enthalten, weil der süße Geschmack indirekt den Mehrverzehr von Energie auslösen kann.

Martin Hoffmann: Also ungesüßten Tee, Wasser, sowas in die Richtung.

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Aber durchaus mit Aroma drin, also Zitrone drin, Kräuter drin und dann alles, was kohlenhydrat basiert ist bei den Kohlenhydraten, darauf achten, dass möglichst viele Belaststoffe drin sind. Möglichst ein hoher Anteil an Eiweiß in der Ernährung, weil Eiweissättigend wirkt. Das sind so ein paar Empfehlungen, ohne dass ich jetzt Rezepte vorlese.

Martin Hoffmann: Wie lässt sich denn, ich sage jetzt mal, ein gesundes Essverhalten in einem Alltag von einer Familie integrieren? Welche Rolle spielen feste Zeiten zum Beispiel, Rituale dabei, gerade auch für die Kinder?

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Ja das ist nochmals ein wichtiges Stichwort, dass wir Menschen alle und die Kinder vor allem Rituale brauchen und einen festen Rhythmus. Das hilft sehr, sehr viel. Das wissen wir von unseren Kindern, die mit Diabetes leben, die, wenn die einen guten Rhythmuss haben, dann kriegen die super tolle Blutzuckerkontrollen hin. Alles, was den Rhythmos durcheinander bringt, bringt auch den Blutzucker durcheinander. Und so ist es mit der gesunden Ernährung. Lebensstil ist es letztlich auch, wenn ich einen geregelten Tagesablauf habe und gemeinsam am Tisch mit anderen zusammen mir Zeit nehme für das Essen ohne Medien, dann trägt es sicher dazu bei, das Gewicht besser kontrollieren zu können.

Martin Hoffmann: Professor Wabitsch, vielen, vielen Dank für die Einblicke.

Prof. Dr. Martin Wabitsch: Danke für das Interview.

Martin Hoffmann: Kinder haben einen angeborenen Bewegungstrang. Und wenn wir sie nicht zum permanenten Sitzen erziehen, dann ist schon einiges geholfen, wie Professor Woll sagt. Und eine Stunde Alltagsbewegung pro Tag als Minimumziel, wie es die WHO empfiehlt, das sollte doch eigentlich drin sein, gerade wenn der Spaß an der Bewegung zum Beispiel durch qualifizierten Sportunterricht oder durch die Eltern, die als Vorbildfunktion wirken können, vermittelt werden kann. Was mir bei Professor Wabitsch wirklich in Erinnerung geblieben ist, ist die These, dass Adipositas stark biologisch geprägt ist. Ich finde das eine sehr, sehr spannende Beobachtung. Wie geht es euch denn nach der Folge? Habt ihr selbst auch mit Übergewicht zu tun oder fühlt euch unwohl? Oder habt ihr Kinder, die mit Adipositas zu kämpfen haben? Nutzt gerne mal die Kommentarfunktion, um euch hier auszutauschen. In den Shownotes gibt es natürlich auch wieder Tipps von unseren beiden Experten. Schaut da gerne mal rein. Hier gibt es auch Infos, die in den Gesprächen vielleicht etwas zu kurz gekommen sind. Und wenn ihr Fragen und Anregungen habt, gerne eine DM bei Instagram an uns schicken. Ihr findet uns über @gesundnah. Wenn euch der Podcast gefällt, gerne abonnieren und weiterempfehlen. Und wenn wir noch eine Bewertung dalassen möchtet, dann sagen wir natürlich auch nicht nein. Wir freuen uns, wenn ihr das nächste Mal wieder dabei seid. Ich bin Martin Hoffmann. Wir hören uns.

Outro: GESUNDNAH – der Gesundheitspodcast der AOK Baden-Württemberg.

Neuer Kommentar

Dein Name oder Pseudonym (wird öffentlich angezeigt)
Mindestens 10 Zeichen
Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.