#18 Loslassen lernen: Wege aus der Co-Abhängigkeit

Shownotes

Schätzungen zufolge sind acht bis zehn Millionen Menschen in Deutschland co-abhängig. Damit sind Angehörige von Suchtkranken gemeint. Die Suchtberaterin Marietta Spohn leitet in Stuttgart eine Selbsthilfegruppe für diese Menschen. Der Austausch mit anderen Betroffenen hat auch Adalbert Gillmann geholfen. Er berichtet, wie die Drogensucht seiner beiden Kinder sein Leben verändert hat.

Weitere Informationen zur Angehörigengruppe von Marietta Spohn gibt es hier: https://www.eva-stuttgart.de/unsere-angebote/angebot/angebote-fuer-angehoerige

Zur Elternselbsthilfe Zollernabkreis von Adalbert Gillmann geht es hier lang: https://www.elternselbsthilfe-zak.de

Neben Alkohol und Drogen können auch Nikotin, Glücksspiel, soziale Medien oder bestimmte Nahrungsmittel zu einer problematischen Abhängigkeit führen. Wenn du oder jemand in deinem Umfeld betroffen ist, können diese Anlaufstellen helfen: • Telefonseelsorge: https://www.telefonseelsorge.de/telefon/ • Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/hilfsangebote/hilfsangebote/ • Deutsche Depressionshilfe: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/wo-finde-ich-hilfe • Dein Hausarzt/deine Hausärztin

Alkoholabhängigkeit ist die häufigste Suchterkrankung in Deutschland. Die Folgen betreffen oft nicht nur die erkrankte Person selbst. Mehr dazu lest ihr hier: https://www.aok.de/pk/magazin/aus-der-region/baden-wuerttemberg/sucht-und-co-abhaengigkeit-hilfe-fuer-betroffene/

Weitere Infos und Wissen zum Thema Sucht findet ihr hier: https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/sucht/

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Disclaimer: Achtung! Im zweiten Gespräch dieser Folge geht es um Depressionen und Suizid. Höre bitte nur zu, wenn du dich dazu emotional in der Lage fühlst. Wenn dich die Themen belasten oder du selbst betroffen bist, wende dich an eine Vertrauensperson. In unseren Shownotes findest du außerdem wichtige Anlaufstellen.

Intro: Unterwegs für die Gesundheit. GESUNDNAH – der Podcast der AOK Baden-Württemberg.

Martin Hoffmann: Sucht ist ein riesiges Thema in Deutschland: 8,2 Millionen Menschen leiden an einer Abhängigkeit von Alkohol, illegalen Drogen, Medikamenten und Glücksspiel. Das ist quasi jeder Zehnte. Hinter jedem Fall steckt eine eigene Geschichte. Meistens sind Angehörige und Freunde involviert und viele versuchen, den Süchtigen irgendwie zu helfen und merken dabei gar nicht, wie sehr sie selbst und damit der eigene Körper und die seelische Gesundheit darunter leiden. Ich bin Martin Hoffmann und mein Thema heute ist die Co-Abhängigkeit. Ich muss gestehen, Co-Abhängigkeit als eigenständiges Krankheitsbild hatte ich so gar nicht auf dem Schirm. Jedenfalls nicht in einer solchen Größenordnung. Wir reden hier von ungefähr 8 Millionen Menschen, die deutschlandweit betroffen sind. Also richtig viele Menschen. Die Zahlen habe ich übrigens vom Bundesministerium für Gesundheit. Um genau zu verstehen, wie es zur Co-Abhängigkeit kommen kann, und mit welchen gesundheitlichen Folgen Betroffene rechnen müssen, bin ich mit Marietta Spohn verabredet. Sie ist Suchtberaterin und Leiterin der Angehörigengruppe für Abhängigkeitserkrankungen in der Familie bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e. V. mit dem Schwerpunkt Alkohol und Glücksspielabhängigkeit. Danach geht's für mich nach Balingen. Dort treffe ich Adalbert Gillmann. Er ist Vater von zwei drogenabhängigen Kindern. Und um irgendwie mit der Situation klarzukommen, hat er zusammen mit seiner Frau eine Selbsthilfegruppe für andere Eltern und Angehörige von Suchtkranken gegründet. Er selbst hat sich auf seinem Weg raus aus der Co-Abhängigkeit fast verloren. Er will mir seine Geschichte erzählen und das wird ziemlich krass. Ich bin jetzt in Stuttgart, in Zuffenhausen, in der Ludwigsburger Straße 131 bei eva Stuttgart e. V. und Frau Spohn. Mit ihr habe ich mich hier verabredet. Ich gucke gerade mal, da geht die Tür schon auf. Hallo Frau Spohn, hallo.

Marietta Spohn: Hallo Herr Hoffmann, herzlich Willkommen. Schön, dass Sie da sind.

Martin Hoffmann: Ja, Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns nehmen. Frau Spohn, was würden Sie sagen: Was ist Co-Abhängigkeit genau und wie äußert sich Co-Abhängigkeit?

Marietta Spohn: Da handelt es sich um Verhaltensweisen von Angehörigen, die ein Suchtverhalten bei einem Elternteil oder Partner, Partnerin, einem Kind gegebenenfalls legitimieren oder sogar verstärken. Das wäre mal so grob das, was man von der Definition her unter Co-Abhängigkeit versteht. Der Begriff ist nicht so der Schönste. Also da wehren sich doch manche Angehörige auch, dass sie sich als co-abhängig bezeichnen sollten.

Martin Hoffmann: Verstehe ich auch total. Also ich habe auch ganz viele Probleme mit dem Begriff gehabt.

Marietta Spohn: Genau, geht mir auch so. Und so erlebe ich das auch bei den Angehörigen. Also ich würde eher da von abkommen, das so zu nennen. Letztlich geht es ja ganz besonders bei Angehörigen und deren suchterkrankten Angehörigen, den Betroffenen, darum, dass es so eine Art Krankheitsgemeinschaft ist, von dem würde ich so sprechen. Also, dass sie sehr involviert sind in das ganze Geschehen, was die Sucht betrifft. Und das drücken Angehörige selber ganz gut aus, wie zum Beispiel, dass sie sagen: Letztendlich lebt man für zwei. Also so hat mir das ein Angehöriger mal gesagt. Oder, dass sie sich als Art Komplize erleben, so eine Art Zweierpakt für den anderen. Lügen am Anfang auch, sehr oft passiert das, Dinge geheim halten, bagatellisieren, weil das eben für alle Beteiligten sehr schambesetzt ist.

Martin Hoffmann: Also auch so eine Art Selbstschutz. Einmal natürlich Familienmitglieder vielleicht schützen wollen, aber auch sich selbst schützen damit.

Marietta Spohn: Ja, ja, genau. Aber schon insbesondere erst mal so die Familie, das sollte nicht nach außen dringen. Das berichten viele, dass sie sagen: Puh, das ist uns total unangenehm, das wollen wir nicht, dass das andere mitbekommen. Weil es vielleicht auch in der Gesellschaft weiter noch so tabuisiert und stigmatisiert einfach auch ist, diese Erkrankung.

Martin Hoffmann: Wie äußert sich denn diese Erkrankung? Also was passiert denn da genau mit den Menschen?

Marietta Spohn: Ja, die Angehörigen entwickeln so ein Verhalten wie, dass sie sich schuldig dafür fühlen. Die sagen: Boah, vielleicht hat es was mit meinem Verhalten zu tun, dass mein Partner jetzt zu viel trinkt. Habe ich den zu viel kontrolliert? Bestimmt stimmt was in unserer Beziehung nicht. Solche Fragen kommen auf. Also es kommt so eine Art, also eine ganz arge Verunsicherung erlebt man bei den Angehörigen, dass sie sagen: Puh, was hat es mit mir zu tun? Dann auch so eine große Verzweiflung, die da aufkommt: Wie kann ich das wieder eindämmen, den Konsum, der immer mehr wird? Angehörige haben so die Vorstellung, wenn ich nur genug liebe und Kraft und Überwindung aufbringe, dann kann ich meinen betroffenen suchtkranken Angehörigen retten. So Vorstellungen kommen auf. Die Krankheit wird total zum Mittelpunkt in der Beziehung, in der Familie. Auch, angenommen aus der Sicht eines Kindes, dass ein Elternteil trinkt, dass sich alles nur noch darum dreht, dass das Kind verunsichert ist: Mensch, wie kommt der Papa oder die Mama nach Hause? Wie finde ich sie vor? Auch ganz arg bei Partnern oder Partnerinnen, dass sie nicht wissen, wenn sie unterwegs waren, wie sieht es zu Hause aus? Wie geht es meinem Partner? Also große Verunsicherung, Ängstlichkeit und dann auch so im Verlauf dieses Gefühl: Puh, es dreht sich alles nur noch um ihn oder sie. Wo sind da so meine Bedürfnisse und meine Wünsche?

Martin Hoffmann: Welche gesundheitlichen Folgen kann denn Co-Abhängigkeit für Betroffene haben?

Marietta Spohn: In unserer Gruppe wird immer wieder auch geweint. Also da ist schon so eine grundsätzliche negative Stimmung da, eine Traurigkeit, ein bisschen Verzweiflung, eine große Ratlosigkeit darüber, wie kann ich denn jetzt nun mal das beeinflussen, das unser betroffener suchtkranker Mensch unserer Familie eben nicht mehr so viel trinkt? Oder Depressionen auf jeden Fall auch, dass sie auch gegebenenfalls Medikamente nehmen müssen, in Therapien selber gehen. Also immer wieder berichten mir Angehörige, dass sie selber in eine ambulante Psychotherapie gehen, um dort Gedanken letztlich mal zu sortieren und zu gucken: Was ist so seins oder ihrs und was ist so meins? Und weil sie sich so sehr involviert und in das ganze Geschehen eingebunden fühlen und das oft nicht mehr voneinander trennen können.

Martin Hoffmann: Welche Form von Unterstützung bekommt man denn in einer Selbsthilfegruppe?

Marietta Spohn: Das können die Angehörigen selber ganz, ganz klar formulieren. Also wir reden auch immer wieder so darüber. Oder wenn mich dann neue Interessierte anrufen und fragen, ob denn eine Gruppe was für sie wäre, dann geht es auf jeden Fall darum, eine Entlastung zu erfahren. Also die meisten erleben dadurch, dass sie das teilen können mit anderen, so eine große Entlastung. Zu sehen: Ich bin da nicht die Einzige, die das jetzt grad hier erlebt. Ich kann diese Gefühle haben, ich darf zu denen stehen, weil anderen Angehörigen geht es ähnlich. Weil da ist oft ja so ein ganz arges Ringen damit: Ich liebe meinen Angehörigen nicht mehr, die Liebe geht irgendwie verloren, das darf doch nicht sein. Ist das wohl nur bei mir so? Und so, dieses Schuldgefühl darüber, das ist eine ganz große Entlastung, das zu sehen: Hey, das da bin ich nicht die Einzige, das scheint normal zu sein. Eine Art Verbündete auch zu treffen in einer Gruppe, sich dazu zu solidarisieren, zu wissen, gemeinsam fühlen wir uns da jetzt auch stärker. Sie stärken sich gegenseitig, indem sie sich austauschen. Dann auch so dieses Erkennen von Mustern eventuell, so von Verhaltensmustern. Was, du machst es auch so? Ach was, ich dachte, ich bin die Einzige, die da hinter jeder Schranktür guckt, ob da sich eine Flasche versteckt. Also dieses zu erkennen: Ja, da hat sich so ein Muster entwickelt. Und wie ist denn das bei mir? Und dann Handlungsstrategien da rauszufinden, im Austausch miteinander zu gucken: Hm, könnte ich das vielleicht auch mal ausprobieren? Der oder die hat so und so geredet oder dies oder jenes gemacht. Wäre das in meiner Situation auch hilfreich?

Martin Hoffmann: Gerade bei dieser Handlungsstrategie: Also ich glaube, das ist dann, dass das so ein Knackpunkt ist wahrscheinlich, um ins Umsetzen reinzukommen. Wie sieht denn da Ihre Arbeit ganz konkret aus mit den Leuten, die da zu Ihnen kommen? Weil, ich kann mir gut vorstellen, diesen Austausch, diese Muster erkennen, das funktioniert vielleicht in der Gruppe ganz gut, aber wenn es dann in diese Strategie reingeht, wie unterstützen Sie da?

Marietta Spohn: Viele sagen immer wieder: Wir können nicht gegenseitig Rezepte uns geben. Ja, dass, wenn ich das so erlebt habe in meiner Familie, muss das bei dir nicht so sein. Also das ist mal so eine Art Devise. Also mehr so etwas, wie wieder neues Selbstbewusstsein zu bekommen. Ja, ich darf zu meinen Bedürfnissen stehen, ich bin es mir wert. Also so eine Art Ermutigung, dass ich als Moderatorin, als auch die Angehörigen sich gegenseitig ermutigen, zu sagen: Steh zu dem, das ist okay. Du darfst dein eigenes Leben leben, auch wenn das deines Partners oder das deines Kindes im Moment nur noch katastrophal aussieht. Und das auszuhalten. Und dann, sich gegenseitig zu sagen: Ja, ich hab's so und so probiert, indem ich mal mich räumlich getrennt habe. Das war meine Geschichte, meine Erfahrung – wäre das eventuell auch was für dich? Oder ich bin eben in eine Psychotherapie gegangen oder ich bin auch mal in eine Einzelberatung gegangen, habe mich da besprochen. Also mehr so Handlungsstrategie im weitesten Sinne.

Martin Hoffmann: Wie kann man denn suchtkranken Angehörigen helfen, ohne selbst in eine Co-Abhängigkeit zu geraten?

Marietta Spohn: Ja, also ich würde schon meinen, dass es viel damit zusammenhängt, denjenigen auch ein Selbstbewusstsein zu vermitteln, einen Wert als Person selber zu vermitteln. Unabhängig von der Beziehung zu einem anderen. Ja, ich meine, das ist normal, das kennen wir alle, dass wir uns identifizieren durch Beziehungen, die wir leben. Aber in einer suchtkranken Familie, in den Beziehungen dort, sind sie eben erkrankt diese Beziehungen oft. Weil, jeder Part hat da eine bestimmte Rolle, die er einnimmt. Und sich da wieder frei von zu machen, sich das zu erlauben, die Person darin zu bestärken, ihm zuzusprechen, zu sagen: Auch du darfst eigene Bedürfnisse haben, du hast dein eigenes Leben, das ist okay so – es braucht immer wieder neu diese Zusprache, weil das tatsächlich verloren ging. Das ist was ganz Prägnantes, was viele Angehörige erleben, sich so verloren zu fühlen, mehr und mehr.

Martin Hoffmann: Wie mache ich das denn, wenn ich jetzt alleine zu Hause bin, mit Partner, mit Partnerin und ich habe eben noch nicht diesen Kontakt zur Selbsthilfegruppe gemacht. Wie mache ich das?

Marietta Spohn: Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man auch als Angehörige sich informiert, sich Informationen holt über die Erkrankung – Alkoholismus oder auch Glücksspielabhängigkeit.

Martin Hoffmann: Also potenziell kann das eigentlich in jede Sucht irgendwie reingehen, Co-Abhängigkeit?

Marietta Spohn: Ja richtig, das hat man vorhin ganz vergessen zu erwähnen. Also da geht es um jegliche Substanz. Diese Dynamik, die Sie ja vorhin so erwähnt hatten, die da entstehen kann. Und so die ersten Schritte wären dann wirklich: Ich informiere mich darüber. Was hat es damit auf sich? Und das auch zu erkennen. Und das erlebe ich bei den Angehörigen auch ganz unterschiedlich. Wirklich zu erkennen, zu verstehen, da handelt es sich um eine Erkrankung, das ist nicht nur ein eine Willensschwäche. Was ja gesellschaftlich gerne so allgemein gesagt wird: Ach, wenn derjenige es nur richtig wollte, dann kann er doch davon lassen. Nein, das kann er eben nicht, weil, es ist eine Erkrankung. Und eine Abhängigkeit bedeutet, dass er eben das nicht mehr einfach so steuern kann. Und das als Angehörige mehr und mehr zu verstehen, sich zu informieren über Medien, über ihn ins Gespräch zu gehen mit einer Beratungsstelle, mit anderen Betroffenen. Dann aber auch ganz arg ins Gespräch zu gehen mit dem betroffenen Angehörigen. Da keine Scheu zu haben, da offen zu bleiben, zu sagen, so und so geht's mir damit. Es herrscht ja dann auch zunehmend eine Eifersucht und eine Konkurrenz auch zu der Flasche, wenn es sich um Alkohol dreht, oder zu dem Verhalten des vielen Spielens. Dann fühlt sich ja die Partnerin oder auch der Elternteil, der keinen Zugang mehr zu seinem Kind findet, zurückgesetzt. Und das offen anzusprechen, allerdings ohne Schuldzuweisungen zu geben, möglichst bei sich zu bleiben, zu sagen so fühle ich mich damit und so geht es mir damit, und kannst du das verstehen? Können wir da was ändern? Wie siehst du das? Und dann geht es in so diesen Prozess der Einsicht auch bei dem anderen. Weil, bis der erkrankte Mensch das für sich einsieht, dass er eine Krankheit hat, ein wirkliches Problem damit hat, braucht es auch sehr, sehr lange Zeit.

Martin Hoffmann: Also offen und transparent kommunizieren. Gerade der Punkt mit den Schuldzuweisungen. Ich glaube, das ist ein Knackpunkt und unglaublich schwierig, glaube ich auch, in dem Moment da dann so offen zu bleiben und dann eben keine Schuldzuweisungen an der Stelle loszuwerden. Wie ist das denn eigentlich, wenn wir jetzt mal davon ausgehen, man hat es geschafft: Der suchtkranke Angehörige zum Beispiel ist jetzt nicht mehr drogenabhängig, also hat sich gesagt, ich trinke nicht mehr und ist auch trocken für eine längere Zeit. Ist dann damit gleichzeitig auch die Co-Abhängigkeit weg? Weil, sie schütteln schon direkt mit dem Kopf … .

Marietta Spohn: Also nein, das glaube ich nicht. Das ist ja ein längerer Prozess und was, was sich dann so erst entwickelt. Und das, was sich so lange entwickelt hat in der Beziehung an Dynamik, das lässt sich nicht einfach so auflösen. Auch nach einer Therapie, wenn derjenige dann abstinent lebt, versucht, ohne das Suchtmittel auszukommen, hat sich da in der Beziehung was verändert. Die Beziehung ist nicht mehr dieselbe. Also das berichten immer wieder Menschen, sei es Angehörige als auch Betroffene. Und da gilt es, weiter dranzubleiben, weiter im Gespräch zu bleiben, zu sagen: Ja, bei uns hat sich so und so unsere Beziehung entwickelt, wie können wir da wieder mehr eine Leichtigkeit reinbekommen? Weil, man muss ja bedenken, ein Misstrauen bleibt weiterhin. Das ist so was ganz Prägnantes auch für Angehörige, dass sie so diesen Verlust des Vertrauens in den anderen leider verloren haben aufgrund vieler, vieler Ereignisse. Und da geht es auch gar nicht darum, dass der betroffene suchtkranke Mensch da schuld dran ist. Das ist eben die Dynamik, die sich dann entwickelt. Und da wieder Vertrauen aufzubauen, das braucht Zeit und hat nicht nur mit dem zu tun, dass jetzt die Suchtmittel mal weg ist.

Martin Hoffmann: Und wenn dieser Gedanke sich mal festgesetzt hat, das dauert wirklich, wie Sie sagen, bis dann wieder Vertrauen da sein kann. Ich habe jetzt rausgehört: offen kommunizieren, alles offen ansprechen, Verantwortungen klar machen, keine Schuldzuweisungen auch direkt weiterzugeben, sich informieren und Hilfe suchen. Gerne auch ein Ticken früher Hilfe suchen, damit man eben nicht in diese Abwärtsspirale reinkommt. Frau Spohn, vielen, vielen Dank. Unglaublich viel gelernt wieder. Danke Ihnen.

Marietta Spohn: Danke schön.

Martin Hoffmann: So, ich bin jetzt in Balingen angekommen und gleich treffe ich Adalbert Gillmann. Er ist Gruppenleiter einer Selbsthilfegruppe für Eltern von Suchtkranken. Und ich muss gestehen, ich bin wirklich ein bisschen nervös, weil in der Recherche habe ich schon ein paar familiäre Hintergründe erfahren und das ist echt heftig. Er will mir seine Geschichte erzählen und die hat es wirklich in sich. So, ich bin jetzt bei KIGS, das ist die Kontakt- und Informationsstelle für gesundheitsbezogene Selbsthilfe der AOK Neckar-Alb. Und Herr Gillmann hat uns hier einen Besprechungsraum für das Gespräch organisiert. Ich guck mal ganz kurz rein. Hallo, Herr Gillmann!

Adalbert Gillmann: Hallo, Herr Hoffmann.

Martin Hoffmann: Schön, dass wir uns hier sehen und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, dass wir hier sprechen können. Danke schön.

Adalbert Gillmann: Danke schön. Mich freut es ebenfalls.

Martin Hoffmann: Herr Gillmann, Sie haben selbst Erfahrungen mit Co-Abhängigkeit gemacht. Wie ist es dazu gekommen? Was ist passiert?

Adalbert Gillmann: Ja, also ich habe drei Kinder und zwei davon sind drogenabhängig geworden. Anfangs nur mit Cannabis. Und ich selber habe es gar nicht als erstes gemerkt, sondern meine Frau, weil ich war ja viel arbeiten und sie hat dann irgendwann mal gesagt, mit den Kindern stimmt was nicht, also mit den zweien. Und dann hat man auch schon mal überlegt, was könnte sein und so. Gut, vom Alter her haben wir gedacht Pubertät – okay, das wird sich wieder ergeben. Wir waren auch mal in der Pubertät und so haben wir gedacht, das ergibt sich wieder. Das ist jetzt gerade eine schwierige Zeit, was sich später andersherum rausstellte.

Martin Hoffmann: Jetzt haben Sie gesagt, angefangen mit Cannabis. Wie ging es weiter?

Adalbert Gillmann: Also, ich kann es gar nicht so genau sagen, weil ich habe auch nie gefragt. Aber wir wissen, dass sie querbeet alles probiert haben außer Heroin. Da hatten sie wohl Respekt, keine Ahnung. Aber sonst alles Mögliche, was es so gibt.

Martin Hoffmann: Jetzt haben Sie gerade gesagt, Sie haben das gar nicht direkt mitbekommen, weil Sie so viel gearbeitet haben, sondern erst Ihre Frau hat das alles mitgekriegt. Als Sie gemerkt haben: Okay, ich bin da jetzt grad nicht richtig dabei, also das läuft schon länger, aber ich habe es irgendwie nicht so richtig mitgekriegt. Was hat es mit Ihnen gemacht?

Adalbert Gillmann: Also bei mir war es so, dass wir es auf die Pubertät geschoben haben. Und dann, wo wir halt gemerkt haben, da muss mehr dahinter sein und so weiter, dann war es auch so, dass ich gesagt habe, okay, dann arbeite ich jetzt weniger. Bei mir war es halt blöderweise so, dass ich sehr starke Schuldgefühle bekommen habe, weil ich habe sofort gespürt, ich habe meine Frau alleine gelassen mit dem Problem. Und das habe ich mir auf die Fahne geschrieben. Und aus dem Grund bin ich auch sehr depressiv geworden. Also ich habe schwerste Depressionen erlitten dadurch und ich war eigentlich gar nicht in der Lage, irgendwas zu unternehmen. Ich habe eigentlich nur noch nicht funktioniert. Das war das Problem.

Martin Hoffmann: Jetzt sagen Sie gerade Schuldgefühle Ihrer Frau gegenüber. Also ich bin selbst Vater, und wenn ich mir jetzt überlege, okay, Kinder werden drogensüchtig: Haben Sie sich auch Vorwürfe gemacht, dass das irgendwas mit Ihnen zu tun haben könnte mit der Art der Erziehung? Weil, man ist ja da, als Elternteil ist man ja sehr nah dran und man sucht ja nach Gründen erstmal.

Adalbert Gillmann: Ja, das ist so ein Thema. Man sucht nach Gründen. Und im Grunde genommen gibt es ja nicht den Grund, weil da sind viele Faktoren dabei, das weiß ich heute. Ich bin ja mittlerweile 17 Jahre oder so in der Selbsthilfe für Eltern und von daher weiß ich das. Aber es ist natürlich so, ganz am Anfang sucht man den einen Grund: Was war da schuld dran? Was haben wir falsch gemacht? Es ist ja auch das Gefühl, was die Eltern erleben, dass sie einfach denken: Ich habe versagt in der Erziehung, sonst wäre es nicht so geworden.

Martin Hoffmann: Hätte ich mir jetzt auch sofort gedacht, dass man so denkt: Okay, ich habe versagt.

Adalbert Gillmann: Ja, und bei mir war es ganz klar: Du warst nie zu Hause, du warst nie da für deine Kinder. Und das hat es für mich dann so schwer gemacht. Und dann noch die Frau alleingelassen. Dann die ganzen Probleme im Geschäft, natürlich auch viel Arbeit und so, und dann kam da alles so zusammen und ich bin buchstäblich zusammengebrochen. Ich habe keine Lösung gesehen, in keinster Form. Und ich habe gemerkt, okay, meine Frau ist langsam auch überfordert. Wenn man so ein Problem zu Hause hat, hat man jeden Tag Streit, jeden Tag. Manchmal über banale Dinge und man versucht die zu bekehren: Hör auf mit dem Scheiß, du machst dein ganzes Leben kaputt. Man verliert ganz langsam, systematisch quasi die Verbindung zum Sohn.

Martin Hoffmann: Sie haben doch bestimmt auch andere Versuche gemacht. Also nicht nur versucht, auch auf die Kinder einzureden, sondern, ich sage jetzt mal Entzug oder die Hilfe, die einem angeboten wird, auch irgendwie wahrzunehmen. Was haben Sie alles gemacht?

Adalbert Gillmann: Also Entzug ist gar nicht möglich im Prinzip, wenn er es nicht möchte. Solang er die Einstellung nicht hat, kann man nichts ändern. Weil, klar haben wir auch versucht im Zimmer mal zu suchen und wenn man was findet, schmeißt man was weg und so. Das führt nur dazu, dass sie es dann außerhalb machen und dann haben die halt irgendwo Plätze im Wald oder irgendwo, weiß der Geier wo. Ich kann es bis heute nicht sagen, wo sie ihr Zeug versteckt hatten. Aber die haben immer Zugang, egal, auch wenn sie kein Geld haben, die bekommen das Zeug. In der Regel wird es dann, und ich gehe auch davon aus, dass meine Kinder das auch gemacht haben, quasi gedealt.

Martin Hoffmann: Haben die Kinder irgendwann erkannt, dass es eine Sucht ist, dass sie da ein massives Problem haben oder war gar nicht die Einsicht da? Kam es immer nur, in Anführungszeichen, von Ihrer Seite?

Adalbert Gillmann: Keine Einsicht von den Kindern.

Martin Hoffmann: Bis heute, oder?

Adalbert Gillmann: Bis heute. Also mein Sohn war jetzt zweimal in Reha, meine Tochter einmal. Mein Sohn hatte ja auch, er hat schon mit einer Doppeldiagnose zu tun, weil er Psychosen hatte.

Martin Hoffmann: Reha heißt dann so was wie Entzug?

Adalbert Gillmann: Weiß nicht, ob man es Entzug nennen kann. Klar, im allgemeinen Wortgebrauch ist Entzug das richtige Wort. Aber es ist eine ganz normale Reha, so wie, wenn wir in Kur gehen wegen Depressionen oder so. So weiß ich das auch. Es wird das Problem behandelt. Vor allen Dingen dann im Kopf. Und das ist auch das, was denen da sehr Angst macht, weil die denken, ich werde umprogrammiert gegen meinen Willen. Und deswegen ist es immer sehr schwer, die Menschen da hinzukriegen.

Martin Hoffmann: Das muss intrinsisch motiviert sein, dass man das macht. Wie ist der Kontakt heute zu Ihren Kindern?

Adalbert Gillmann: Also wir haben sehr guten Kontakt, weil es war ja so: Ich habe mit meinem Sohn … und das ist für mich heute noch sehr schwer drüber zu reden, weil ich habe mich bei ihm zwar entschuldigt, aber ich wollte mit ihm mal noch ins Gespräch gehen. Es gab eine Zeit, wo es so schlimm war, wir hatten zwei Worte geredet von einem Satz und dann war er auf 180, ich war auf 180 und dann haben wir uns nur noch angeschrien. Bitterböse. Ja, da sind wirklich Worte gefallen, wie zum Beispiel: Wenn du nur ‚verregga dädeschd‘. So. Und das ist natürlich schon, das sind Dinge, die fressen sich natürlich auch ein bisschen rein und das ist bei mir heute noch nicht ganz verdaut, weil ich den Spruch auch gesagt habe. Ja, und wir lieben unsere Kinder trotzdem. Das sind tolle Kinder, aber eben sehr krank. Sucht ist eine Krankheit. Und das ist natürlich, sage ich mal, das muss man zuerst mal verstehen.

Martin Hoffmann: Welche Auswirkung hatte Co-Abhängigkeit so auf den Alltag, auf Ihre Gesundheit? Wenn wir jetzt über Depressionen sprechen, über welchen Zeitraum sprechen wir da?

Adalbert Gillmann: Also meine Depression begann 2008 durch ein anderes Problem zuerst mal, und dann aber kam das Ganze dazu und ich wollte eigentlich viele Dinge bewältigen. Gerade die Sucht von meinen Kindern, die unterstützen. Und bei mir war es ja so, dass ich dann halt durch die Depression dann immer weiter rein und ich konnte wirklich nichts mehr tun. Ich hätte nie gedacht, weil ich war ein Mensch, der alles immer sehr gut organisiert hatte. Ich habe in meiner Arbeitsstelle meinen Kollegen Kurse gegeben, wie man Leer-Tischler wird. Das Wort Leer-Tischler ist einfach, dass alles was kommt, dass der Tisch immer leer ist, sich keine Akten stapeln und so weiter. Und am Schluss habe ich selber gemerkt, es geht nicht mehr. Bei mir stapeln sich die Sachen und ich war da in Anführungszeichen fast schon Experte und es ging nicht mehr. Ich bin nur noch vom Sofa aufs Bett und vom Bett ins Sofa. Ich konnte nicht mehr, gar nichts mehr. Und das ist natürlich, man vereinsamt im Prinzip so in der Stille und man nimmt keine Hilfe an. Und als ich, bei meinem Sohn war es, mit dem habe ich drei Jahre nicht mehr gesprochen aus dem Grund, weil wir uns immer so gestritten haben. Ich wollte mich selber schützen und das war genau falsch.

Martin Hoffmann: Wie haben Sie sich da rausgezogen oder wurden Sie rausgezogen?

Adalbert Gillmann: Also ich habe selber gemerkt, dass ich Hilfe brauche. Ganz am Schluss war es ja so, ich wollte mir auch das Leben nehmen. Ich wollte mit dem Auto Amok fahren.

Martin Hoffmann: Sind Sie ins Auto gestiegen?

Adalbert Gillmann: Ja. Ich bin mit 180 durch die geschlossene Ortschaft gefahren. Polizei hat mich aufgehalten. Weil es war so, dass ich im Geschäft noch einen Anruf bekam von der Verwandtschaft, da gab es noch andere Probleme, und dann bin ich zusammengebrochen. Und da bin ich aufgestanden, habe aufgelegt, bin zu meinem Chef und hab gesagt: Mach‘s gut, ich bringe mich jetzt um. Bin ins Auto hinein und losgefahren. Und dann hat mein Chef sofort die Polizei angerufen und dann ist auch eine Hundertschaft ausgerückt, Hubschrauber, die haben mich sofort gesucht. Ich kam danach auch einen Tag in die geschlossene Abteilung von einer Psychiatrie und dort habe ich vier Stunden Gespräche mit verschiedenen Ärzten gehabt und dann wurde mir bestätigt, dass das eine Kurzschlusshandlung war. Und ich habe es auch so gesehen. Ich durfte dann am gleichen Tag sogar wieder nach Hause. Weil ich habe ja schon ein halbes Jahr vorher gemerkt, es stimmt was nicht mit mir, oder schon längere Zeit sogar. Aber ich habe dann auch Reha beantragt und die ist nicht genehmigt worden und dann haben die mich, also ich habe das dann auch gesagt, ich habe gemerkt, dass was nicht stimmt. Ich wollte mir Hilfe holen, habe keine Reha bekommen. Und dann haben die gesagt, das kann doch nicht sein, und dann sagte ich: doch. Ja und Sie würden gehen? Dann sagte ich: Wenn Sie mir jetzt sagen, ich muss gleich gehen, gehen wir gleich. Die Klamotten kann man nachbringen. Und dann war ich in drei Tagen in Reha.

Martin Hoffmann: Also ich kann mich in so eine Situation nicht reindenken, was Sie da durchgemacht haben, was Sie erlebt haben. Auch, dass man dann ins Auto einsteigt und losfährt. Aber ich stelle es mir so vor, dass es ganz unten ist. Also weiter runter geht glaube ich schwer an der Stelle. Was hat Ihnen in der Reha geholfen? Also gab es da Techniken, gab es da irgendwas, was man Ihnen mit an die Hand gegeben hat, um sie da, ich sage jetzt mal ins Leben zurückzubringen?

Adalbert Gillmann: Ja, es gab da schon Vieles. Also eines der wichtigsten Dinge habe ich zwar in der Reha gemacht, aber noch nicht richtig verstanden. Das Verständnis dafür. Und da geht es um Achtsamkeit. Das Problem ist ja, wenn man so in der Depression steckt oder wenn man solche Probleme hat, nimmt ja das Kopfkino, der Gedankenkreisel in der Seele, der steigert sich ja und wird dann richtig rasant, man kann nicht mehr schlafen und so weiter. Und mit Achtsamkeit kann man das wieder reduzieren. Aber man muss das konsequent durchführen. Im Hier und im Jetzt, permanent, wenn man unterwegs ist, immer nur das Positive suchen. Das bringt das Gehirn dazu, positiver zu denken. Wenn man richtig in Depressionen steckt, ist es ja so, dass man an nichts mehr glaubt. Und wenn jetzt, was weiß ich, ein Glas Wasser umfällt, damals war es so, da hätte ich gedacht: Ja klar, das kann nur mir passieren. Aber es fallen jeden Tag Gläser um. Aber man sieht es selber dann so schlimm und man sieht eigentlich nur noch Schlechtes. Und durch Achtsamkeit, Selbstfürsorge, mit sich selber befassen, das war eigentlich das, was mir am meisten geholfen hat. Ich musste richtig lernen, mich zu lieben. Und das habe ich dann mit vielen Dingen gemacht, grad Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Spiegelarbeit am Spiegel, mit mir selber gesprochen, solche Dinge. Mich angeschaut: Ja, okay, ich bin nicht perfekt, aber das und das und das sind die guten Seiten an mir. Und so habe ich dann immer mehr hinbekommen und letztendlich ist es so, dass ich heute sage, Achtsamkeit ist wirklich sehr wichtig, dass man es richtig betreibt und auch versteht. Weil das ist, glaube ich, das einzige richtige Mittel, was das Kopfkino abbauen kann. Es gibt natürlich noch so Modelle, wie das A-B-C-Modell.

Martin Hoffmann: Was ist das genau?

Adalbert Gillmann: Das ist so, da tut man die Schicksale, die man bekommen hat, richtig analysieren. Zuerst einmal: Was ist das Grundproblem? Beispielsweise wenn man einen Unfall gebaut hat, dann ist das Grundproblem: Unfall. Ohne Bewertung. Was ist da los?

Martin Hoffmann: Also in dem Fall, wenn man es nochmals auf Ihre Kinder bezieht, ist das Grundproblem dann: Die Kinder sind drogenabhängig.

Adalbert Gillmann: Genau. Und dann kommt das Zweite: Was ist genau in mir passiert? Welche Gefühle hat es getriggert? Was ist genau passiert? Was waren meine Gedanken? Das so ein bisschen analysieren, was da alles gekommen ist. Und dann bei C: Was gibt es alles, was man dann machen kann, was vielleicht besser wäre? Und dann kriegt man vielleicht zehn Antworten und kann sortieren. Das ist das, was mich am meisten anspricht, wo ich mich getraut habe, auch umzusetzen. Und so arbeitet man da. Und das Ganze muss man dann wirklich jeden Tag machen, selbst mit den kleinen Dingen, und das drei Monate lang. Und das habe ich auch gemacht. Und von da an ging es mir wirklich schon um einiges besser, weil das Kopfkino hat abgenommen, ich konnte wieder mehr schlafen und ich habe gemerkt, ich kann was verändern.

Martin Hoffmann: Sie haben 2016 eine Selbsthilfegruppe für Eltern suchtkranker Kinder gegründet. Warum sind Sie diesen Schritt gegangen, dass Sie gesagt haben: Okay, ich muss so eine Gruppe machen?

Adalbert Gillmann: Also es war ja so, dass mein Sohn zehn Tage Beugehaft bekommen hat. Er hat es dann auch angetreten, diese zehn Tage. Und nach fünf Tagen kam ein Brief aus dem Gefängnis, wo er dann geschrieben hat, dass er Hilfe braucht. Das war das erste Mal, dass er wirklich gekommen ist und gesagt hat, er braucht Hilfe. Und dann kam er raus, also einen Tag vorher. Wegen guter Führung hat er einen Tag erlassen gekriegt. Dann hat er mich angerufen, ob ich ihn hole und dann hab ich ihn geholt und habe gefragt: Wie stehst zu deinem Brief? Und dann hat er gesagt: Ja, ich möchte, ich brauche Hilfe und ich würde auch in Reha gehen. Okay, dann habe ich schon, weil ich den Brief gelesen habe, bei einer Suchtberatungsstelle einen Termin gleich gemacht und wir konnten dann gleich am nächsten Tag einen Termin wahrnehmen. Und dort war dann ein Flyer von einer Selbsthilfegruppe in Fillinger-Schwenningen, das waren 65 Kilometer eine Strecke. Und die bin ich tatsächlich sieben Jahre lang alle 14 Tage gefahren. Und es hat sich gelohnt. Es hat sich richtig gelohnt. Weil ich habe dort gelernt, meine Gefühle deuten zu können, mit meinen Gefühle umgehen zu können. Weil da geht‘s sehr viel um Gefühle, ja, man kriegt dann das ganze Leid auch von anderen mit. Und es gibt noch schwierigere Fälle wie meine eigenen.

Martin Hoffmann: Das heißt, man kann es auch so ein bisschen in Relation setzen vielleicht. Das hilft.

Adalbert Gillmann: Genau. Wir lernen gegenseitig von diesen Dingen, weil jeder reagiert anders. Das, was bei meinem Sohn helfen kann, hat vielleicht bei meiner Tochter das Gegenteil ausgelöst. Deswegen kann man auch keine Liste schreiben, 1 bis 50 und dann ist alles okay. Das gibt’s nicht. Man kann es nur vorsichtig angehen. Aber durch das, das man dann dort Halt findet beispielsweise. Ich kann mich noch erinnern, wo ich das erste Mal dort war. Ich habe gesagt, im Auto habe ich überlegt: Also ich rede zuerst mal nix, schaue mir das Ganze an und dann kann man immer noch entscheiden. Und so bin ich hingefahren und wo ich dann drin war, also am Anfang war die noch bissle lustig drauf, haben so gelacht und ich denk nur: Wie können die lachen, wenn man solche Probleme hat? Und dann wurde es ernst und so, es hat sich jeder vorgestellt, und dann habe ich festgestellt, da gibts schwierigere Fälle. Und bei mir war es halt dann so, wo ich dann drankam, habe ich erzählt, zwei Kinder und so und so sieht es aus. Habe versucht, mir das Leben zu nehmen und alles mögliche. Und es war dann letztendlich so, dass die mich sehr gut aufgefangen haben und ich habe gemerkt, einmal einfach so reden, wie es ist, nichts verschönert, da habe ich das mal so richtig gemerkt, wie leicht ich nach Hause gefahren bin. Ich habe ja nach der Depression, beziehungsweise war ja immer noch in der Depression, ich bin im Auto jemand der immer so mit dem Radio mitsingt und das habe ich jahrelang nicht mehr gemacht. Und damals bin ich echt nach Hause gefahren. Ich, also ich möchte fast sagen, ich bin geflogen, also nicht von der Geschwindigkeit her, sondern es hat sich so angefühlt. Für mich war das so schön, ich habe mal alles rausreden können und es ist noch nichts verbessert worden, nur das Gefühl. Ich glaube, ich habe ein Stück Freiheit gespürt.

Martin Hoffmann: Wenn wir jetzt noch mal über Ihre eigene Selbsthilfegruppe sprechen. Sie haben gerade gesagt, man kann eigentlich nicht so richtig Tipps geben, weil alles funktioniert bei anderen vielleicht irgendwie anders. Gibt es trotzdem so ein, ich sage jetzt mal, so ein paar Ratschläge, die Sie gerade jetzt Neulingen in Ihrer Gruppe geben, die so ein bisschen in die Gruppe kommen, wie es bei Ihnen damals war. Was sagen Sie denen?

Adalbert Gillmann: Ja, also das Wichtigste überhaupt ist, dass die Scham überwunden wird, überhaupt in so eine Gruppe zu gehen. Weil ich weiß mittlerweile, ich habe natürlich sehr viel dazugelernt und bin in sehr viele Seminare gegangen, sowohl auf Bundesebene und Landesebene und habe auch selber Seminare organisiert und so weiter und es sind über 50 Seminare. Mittlerweile bin ich, ja ich möcht schon sagen Suchtexperte, bloß nicht auf dem Papier. Und da ist es wirklich so das Erste, was ich wirklich empfehle, und das ist das Wichtigste, mir auf jeden Fall am wichtigsten, sofort zu kommen, wenn man merkt, mein Kind verändert sich im Wesen. Es wird immer so, wie bei mir auch, zur Pubertät geschoben und dann am Schluss ist es so, dass man noch drei Jahre verstreichen lassen hat und in diesen drei Jahren wird das Kind total abhängig. Und dann braucht man wirklich mehrere Jahre, wenn überhaupt, dass sich was verändert. Da merk ich ja, dass wir Eltern uns verändern in der Kommunikation, im Denken. Also, ich kann mich noch erinnern, ich habe ein Seminar gemacht, da kam der Referent rein, nach der Begrüßung hat er gesagt: Wir Eltern gehen unseren Kindern derart auf den Sack. Und der Spruch, der ist mir heute noch im Kopf. Es hat mit dem zu tun, weil wir glauben, wir meinen es gut, wenn man mit denen redet und so weiter. Und das ist genau das Verkehrte. Und deswegen sage ich auch heute: Man schafft es nicht ohne Selbsthilfegruppe. Natürlich gibt es immer Ausnahmen. Aber in der Regel brauchen wir die, weil dort sehen wir dann auch schwierigere Probleme. Und die reden dann, ich habe das und das gemacht, er hat dann so und so reagiert und wenn man dann weiß: okay, es können da Reaktionen entstehen, und man weiß aber: okay, das kann passieren, aber nach zwei Woche wird es akzeptiert, dann habe ich gewonnen an dem Punkt. Es sind aber tausende Punkte. Und so kriegt man das dann hin im Elternkreis. Und bei mir war es dann so, ich habe dann meine Gruppenleiterin, die hatte dann leider Krebs bekommen, musste dann aufhören. Sie wollte, dass ich das weiterführe in Villingen-Schwenningen, und ich habe dann gesagt: Nee, diese Kilometerzahl ist schon recht viel. Ich war noch Zeitungsausträger und von daher war es mir dann wirklich zu viel. Und dann habe ich gesagt, ich mach eine Gruppe, aber hier in Balingen. So habe ich’s dann auch gemacht und da sind auch ein paar mitgegangen, aber auch nicht mehr lange. Also so sieben Jahre wie ich jetzt hat keiner gemacht. Aber mittlerweile sind aus meiner Gruppe raus wieder neue Gruppen entstanden in Villingen-Schwenningen. Also die lebt jetzt auch wieder weiter und ich fühle mich da richtig gut. Ist für mich eine sehr gute Bestätigung, dass ich alles richtig gemacht habe jetzt im Nachhinein.

Martin Hoffmann: Herr Gillmann, vielen, vielen Dank für das Gespräch und dass Sie uns Ihre Geschichte erzählt haben. Danke schön.

Adalbert Gillmann: Bitte schön.

Martin Hoffmann: Co-Abhängigkeit ist wirklich ein weit verbreitetes Thema, fliegt aber momentan noch komplett unterm Radar. Was ich von den Gesprächen mit Frau Spohn und Herr Gillmann definitiv mitgenommen habe, ist transparent kommunizieren und vor allem sich selbst Hilfe holen, und das kann sehr gut in einer Selbsthilfegruppe gelingen. Die kann einfach eine gute Anlaufstation sein, dass man merkt: Okay, anderen, denen geht es genauso, die sind in einer sehr ähnlichen Situation und man merkt auch, wie zum Beispiel Eltern die Situation mit ihren Kindern handeln. Und das kann natürlich Vorbild sein, oder man kann Strategien lernen, die vielleicht in der eigenen Situation auch helfen könnten. Jetzt sagt mal, wie geht’s denn euch eigentlich nach der Folge? Welche Erfahrungen habt ihr vielleicht auch mit dem Thema Co-Abhängigkeit selbst schon gemacht? Schreibt uns das gerne mal in die Kommentare. Danke, dass ihr bis hierhin zugehört habt. Wenn ihr gerne mehr Informationen zum Thema Co-Abhängigkeit haben möchtet, dann schaut doch mal bei uns in die Shownotes rein. Hier gibt es viele Links und weitergehende Informationen zu unseren Gästen. Und natürlich lohnt sich auch ein Blick auf unseren Instagram Kanal @gesundnah. Fragen, Anregungen, Themenvorschläge – alles her damit. Und wir freuen uns natürlich auch über Bewertungen und Kommentare. Ihr wisst, wie das funktioniert. Wir freuen uns, wenn ihr das nächste Mal wieder dabei seid. Ich bin Martin Hoffmann. Wir hören uns.

Outro: GESUNDNAH – der Gesundheitspodcast der AOK Baden-Württemberg.

Kommentare (1)

Mam_kann_nicht_mehr

Danke für diese Episode, die dazu beiträgt, der Stigmatisierung von Sucht und dem ganzen Suchtsystem entgegenzuwirken. Ich selbst bin Mutter eines 23-jährigen politox abhängigen Sohnes und besuche auch 2 Selbsthilfegruppen (online). Mut meinem Instagram-Account habe ich mir ein großes Netzwerk des Austauschs und Hilfe aufgebaut, wo ich mich auch immer zeigen kann, wenn es mir nicht gut geht. Seit über einem Jahr mache ich Coaching bei suchtselbstmitjil.de und das hat mich zurück ins Leben geführt. Mich wieder wahrzunehmen und zu erkennen, dass ich meinen Sohn nicht „retten“ kann. Ich würde mir sehr wünschen, dass auch die Angehörigen im Suchthilfesystem mehr gesehen werden würden, eingebunden werden würden in Therapieprozesse und Hilfe bekämen!

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