#15 Autismus: Wenn die Sinne unter Strom stehen
Shownotes
Wie nehmen Autisten ihre Umwelt wahr und mit welchen Vorurteilen werden sie immer wieder konfrontiert? Diesen und anderen spannenden Fragen geht Moderator Martin Hoffmann auf den Grund.
Ergänzungen zur Folge:
Was ist hochfunktionaler Autismus? Bei hochfunktionalem Autismus, auch Asperger-Syndrom genannt, liegen keine kognitiven oder sprachlichen Entwicklungsverzögerung vor. Asperger-Autisten haben oft ein besonderes Sozialverhalten, ausgeprägte Vorlieben und besondere Interessen. Man unterscheidet den hochfunktionalen Autismus vom frühkindlichen Autismus. Dieser zeigt sich bereits vor dem dritten Lebensjahr und zeichnet sich durch Auffälligkeiten in der Sprache und der Kommunikation aus.
_Weitere Infos: _ https://www.uniklinik-freiburg.de/fileadmin/mediapool/07_kliniken/psy_psychiatrie/pdf/ambulanzen/Information_HFA_2020-08-06.pdf
**Was ist ICD-9? ** ICD ist die Abkürzung für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”, zu Deutsch und vereinfacht: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“. Der ICD-Code ist ein weltweit anerkanntes System zur einheitlichen Benennung medizinischer Diagnosen. Unter den ICD-9 Code fallen viele Diagnosen, unter anderem auch der infantile, also frühkindliche Autismus.
Weitere Infos: https://gesund.bund.de/was-sind-icd-und-ops-codes https://move-autismus.de/vom-autismus-zur-autismus-spektrum-stoerung/
Lena Kühl klärt auf ihrem Blog und in ihrem Podcast über Autismus auf. Mehr dazu: https://www.erwachseneautisten.de/ https://open.spotify.com/show/3pbrp6FvQt0Z8yRZLBEoDT?si=ad12d18090e44cfe
Kurt Nährig hat sich unter anderem auf die Arbeit mit autistischen Menschen spezialisiert. Weitere Informationen findet ihr hier: https://www.kurt-naehrig.de/
Abonniert GESUNDNAH, um keine Folge zu verpassen. Für noch mehr Wissen und Tipps rund um Gesundheitsthemen folgt uns auch bei Instagram oder Facebook.
Transkript anzeigen
Intro: Unterwegs für die Gesundheit. GESUNDNAH - der Podcast der AOK Baden-Württemberg.
Martin Hoffmann: Neulich habe ich den Film "Wir Wochenendrebellen" mit Florian David Fitz und Cecilio Andresen gesehen. Dabei geht es um die Fußballbegeisterung eines Vaters und seines 10-jährigen Sohns. Der Junge ist Asperger Autist und hat sich in den Kopf gesetzt, endlich seinen Lieblingsfußballverein ausfindig zu machen. Aber dafür muss er erst mal alle Vereine kennenlernen. Und er meint wirklich alle Vereine. Um diese Reise geht es in dem Film. Ich bin Martin Hoffmann und heute dreht sich alles um das Thema Autismus und seine verschiedenen Facetten. Eins habe ich bei der Recherche sofort gemerk: Es gibt nicht einfach nur den Autismus. Autismus ist vor allem ein Sammelbegriff für verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen. Man unterscheidet zum Beispiel zwischen frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und atypischen Autismus. Und bei allen Ausprägungen gibt es auch noch verschiedene Abstufungen. Ihr merkt, das ist echt ein total komplexes Thema. Und um hier Klarheit zu schaffen, treffe ich Kurt Nährig. Er ist systemischer Paar- und Familientherapeut und Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Er arbeitet seit über 30 Jahren mit Menschen mit Asperger-Syndrom. Ihn treffe ich in seiner Praxis in Uhldingen-Mülhofen am Bodensee, in der Nähe von Meersburg. Danach bin ich mit Lena Kühl verabredet. Sie hat selbst das Asperger-Syndrom und geht damit sehr offen um. Mit ihr will ich besprechen, wie es ihr seit der Diagnose geht, welche Herausforderung sie im Alltag besonders anstrengen, welche Stärken sie daraus für sich selbst zieht und mit welchen Vorurteilen sie konfrontiert wird. Zuerst bin ich aber am Bodensee. So, ich stehe jetzt direkt vor der Praxis von Herrn Nährig. Wir sind direkt jetzt verabredet und ich schaue mal hier kurz. Ok, hier Nährig Praxis.
Kurt Nährig: Grüß Gott, Herr Hofmann. Wir gehen grad hoch.
Martin Hoffmann: Sehr gut. Herr Nährig, was versteht man unter einer Autismus-Spektrum-Störung? Was ist das genau?
Kurt Nährig: Ich begrenze es mal so auf einen hochfunktionalen Bereich, weil so im Bereich frühkindlicher Autismus, da bin ich jetzt wirklich kein Experte. Wenn man es ganz einfach ausdrückt: es ist eine andere Form der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung. Damit kann man erst mal nicht wirklich was anfangen. Aber es ist wirklich grundlegend und deswegen finde ich auch den anderen Begriff dafür, tiefgreifende Entwicklungsstörung, sehr passend, weil es wirklich ganz tief einfach in das eigene Denken und Fühlen eingreift und dadurch auch Probleme einfach mit der nicht autistischen, also neurotypischen Welt, bereitet. Der autistische Mensch hat Schwierigkeiten, einfach die nonverbalen Signale zu verarbeiten und die sind ganz wesentlich in unserer Gesamtwelt, gerade für die neurotypischen Menschen. Wenn da die nonverbalen Signale fehlen oder scheinbar nicht zu den Worten passen, dann ist der neurotypische Mensch sofort irritiert und der autistische Mensch nimmt diese Dinge nicht wahr bzw. nicht intuitiv wahr.
Martin Hoffmann: Das heißt, wenn, als Beispiel, so einen Unterton oder Emotionen in dem Gesagten mit dabei sind, das wird dann schwierig wahrgenommen.
Kurt Nährig: Genau. Also das fällt raus, im Grunde. Deswegen orientiert sich der autistische Mensch schwerpunktmäßig am gesprochenen Wort, was dann die Tendenz macht, dass Dinge gern wörtlich genommen werden und der Kontext einfach wegfällt. Ich mach ein Beispiel. Die Frau Preismann ist eine in Deutschland bekannte Autistin, auch Ärztin, die auch Bücher schreibt, hat dann mal das Beispiel gebracht aus ihrer Zeit in der Klinik, dass eine Kollegin kam, im Grunde ganz aufgebracht, wie sie im Nachhinein wusste, und sagte: Boah, ich könnt in die Luft gehen. Aber sie hat diese Stimmlagen alle gar nicht wahrgenommen, sondern nur die Worte genommen und hat dann zurückgefragt: Wann fliegst du in den Urlaub? Das war dann ihre Verbindung.
Martin Hoffmann: Okay, das heißt auch so Redewendungen können da sehr, sehr schwierig werden an der Stelle. Sie haben jetzt gerade gesagt hochfunktional, Was bedeutet genau hochfunktional ist es dann auf dem Spektrum die am meisten ausgeprägte Störung oder oder wie meinen Sie das?
Kurt Nährig: Hochfunktional meint, diese Menschen haben eine völlig normale Intelligenz und Sprachentwicklung, also die sind da einfach nicht auffällig. Also das ist dann der große Unterschied zum frühkindlichen Autismus, die einfach auch funktional auch im allgemeinen Lebenssinne oft sind. Deswegen werden viele auch spät diagnostiziert. Es gibt eine Menge, die kommen im erwachsenen oder jungen Erwachsenenalter an und mein: Ja irgendwie, es ist so schwierig vieles und nachdem was ich so geguckt habe, könnte es sein, dass ich Autist bin und wollen da ein Stück noch mal das es mehr eingegrenzt wird. Weil die durchaus, wenn der Rahmen drumherum eine gute Regelhaftigkeit bietet, das sind Schule, für manche reicht auch die Regelhaftigkeit im Studium aus, dass die ganz gut durchkommen. Es gibt eine Menge auch hochfunktionaler Autisten, die haben ein Hochschulstudium abgeschlossen, aber die kriegen keinen Fuß in Beruf rein, weil da einfach die kommunikativen Fertigkeiten nicht da sind bzw. nicht entsprechend kompensiert sind.
Martin Hoffmann: Wie hat sich das denn in den letzten Jahren, also die die Wahrnehmung zum Autismus verändert? Oder gab es da eine Veränderung in den letzten Jahren?
Kurt Nährig: Also das gab es schon, also das war, würde ich sagen so bis 2000 war das hier in Deutschland weiße Landkarte, da war nix, das weiß ich noch. Das war so Mitte der 90er Jahre, da hatte ich als Therapeut in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis gearbeitet und da hat meine Chefin damals zu mir gesagt, da kam ein Junge zu uns, der war 13, 14, der war in einer Psychiatrie und und wurde auf Asperger Autismus diagnostiziert und die Weiterbehandlung sollte bei uns stattfinden. Und die Ärztin meinte: Kurt, jetzt guck mal, ob man mit so jemand schaffen kann. Man wusstes es nicht. Es gab auch zu dem Zeitpunkt keinerlei Literatur zu dem Thema, also deutschsprachig.
Martin Hoffmann: Aber wir sind Mitte der 90er, 2000er, also ich hätte wirklich gedacht, das wäre da schon weiter gewesen.
Kurt Nährig: Nein, des Thema Asperger-Autismus, das kam erst in den 80er Jahren durch die Engländerin Lorna Wing wieder aufs Tablett. Das war vorher, ich sage es jetzt mal sehr salopp, tote Hose, obwohl das von der Fachwelt beschrieben wurde, das war ein Jahr später, wieder frühkindliche Autismus. Aber das ging völlig unter. Und es hat dann wirklich lang gebraucht und das war dann, das weiß ich jetzt nicht, aber ganz spät, ich glaube, erst in den 90er Jahren kam diese Diagnose ins ICD-9.
Martin Hoffmann: Jetzt haben Sie gerade: Schauen wir mal, ob man mit denen schaffen kann. Warum haben Sie sich dann darauf spezialisiert? Wann haben Sie gesagt: Okay, das ist in diese Richtung, in der mit dir arbeiten?
Kurt Nährig: Weil ich es einfach reizvoll finde.
Martin Hoffmann: Was genau? Was? Was reizt Sie da genau?
Kurt Nährig: Man muss erst mal mit dem Gegenüber so in Kontakt, in eine gewisse Verbindung kommen. Und wenn das gelungen ist, dann kann man unheimlich gut mit diesen Menschen schaffen und auch Fortschritte erzielen. Und ich benenne das oft dann auch in der Fortbildung, die ich für Fachkollegen gebe, auch so: es ist ein dankbares Klientel, also nicht dankbar in dem Sinne, dass sie dann kommen und sagen: Oh Herr Nährig, wunderbar, dass Sie mir so toll helfen. Das überhaupt nicht.
Martin Hoffmann: Wollte ich grad sagen, das kommt wahrscheinlich gar nicht vor oder?
Kurt Nährig: Extrem selten. Sondern einfach dankbar im Sinne, dass die mitgehen und dass man Fortschritte sieht und das man sieht, boah das geht voran und es macht einfach Spaß und das hat man in dem Maß, in dem Bereich nicht immer so oft.
Martin Hoffmann: Bevor wir über die Therapiemöglichkeiten sprechen. Wo kommt denn Autismus eigentlich her? Also wie entsteht das?
Kurt Nährig: Man weiß es bis jetzt noch nicht wirklich. Was wohl so grob Forschungsstand ist, ist, dass das durchaus einfach in in der Hirnentwicklung oder in der Hirnstruktur, dass es Veränderung gibt. Aber wo die herkommen, weiß man nicht. Also man hat über bildgebende Verfahren festgestellt, dass autistische Menschen für die Verarbeitung von Gegenständen und von Mimik, Gestik das gleiche Zentrum im Frontalhirn verwenden, das neurotypische Menschen ausschließlich für Gegenstände verwenden. Also die haben quasi auf der parallel anderen Seite gegenüberliegenden ein vergleichbares Zentrum, was ausschließlich für Mimik, Gestik verwendet wird. Und was man aus Beobachtung sagen kann, ist, dass Säuglinge schon ganz früh einfach nicht dem Gegenüber sich hinwenden, sondern mehr auf sachbezogene Dinge reagieren und ein gesundes, vergleichbares, neurotypisches Kind oder Säugling im Prinzip sofort anfängt, Blickkontakt mit Mama oder Papa oder Gegenüber zu suchen und auch in Aktion geht, um Reaktionen hervorzurufen und dass die genau beobachten und das kann man sagen, das ist bei autistischen Säuglingen und Kleinkindern gar nicht oder stark heruntergesetzt, sondern dass die ganz stark auf Farben und Sachformen reagieren.
Martin Hoffmann: Gibt es da, ich sag jetzt mal, eine Aussicht auf, in Anführungszeichen, Heilung? Gibt es so was oder ist es gar nicht möglich?
Kurt Nährig: Also so rum: Wenn Heilung möglich wäre, das wäre ein Ausschlusskriterium für die Diagnose. Also man kann es nicht heilen, man kann es nicht wegkriegen. Was man beobachten kann, ist gerade bei den Hochfunktionalen, dass die häufig dann über starke Beobachtung sich Kompensationsstrategien zulegen, dass die gelernt haben, also zum Beispiel gegenüber angucken, das zu tun, obwohl sie es tierisch anstrengt. Aber weil sie festgestellt haben, wenn ich es tue, ist das Handling mit meinem Gegenüber einfach leichter. Oder dass die einfach auch im sonstigen Umgang mit anderen einfach das kompensieren, dass die sich Floskeln rausziehen. Also das ist bei Jugendlichen, vor allen Dingen weiblichen Jugendlichen ganz stark. Die beobachten und kopieren mehr als Jungen in der Regel. Aber es ist auch bei jungen Erwachsenen im Autismus-Spektrum nicht unüblich, dass die sich Soaps angucken und da genau versuchen zu beobachten, wie verhalten die sich, was sagen die und versuchen das zu kopieren und zu imitieren. Und da kriegen manche dann eine ganz gute Trefferquote hin.
Martin Hoffmann: Jetzt haben sie gerade gesagt, das ist unglaublich anstrengend, was da alles im Hintergrund läuft. Nehmen Sie uns mal mit in so eine Stunde oder wie so eine Therapie generell abläuft. Solche Konstrukte, die im Hintergrund laufen, wie werden die bearbeitet, dass die nicht mehr so anstrengend sind?
Kurt Nährig: Also das ist sehr unterschiedlich. Also das ist von jedem einzelnen Autisten wieder sehr anders. Ich denke neben dem, dass man wirklich in Kontakt kommt mit demjenigen.... es ist in der ersten Phase oft wichtig auch rauszuarbeiten, wo zeigt sich beim Einzelnen im Grunde die autistische Betroffenheit und rauszufinden miteinander, wo jetzt erst mal vorrangig ansetzen. Weil man kann nicht alle möglichen Punkte gleichzeitig bearbeiten, weil das überfordert sonst. Ein weiterer Baustein ist viel einfach so diese neurotypische Welt zu erklären. Gerade wenn es so im beruflichen Bereich ist und dann auch ein Stück abzuklären, ist es ein berufliches Umfeld, wo sich's lohnt, die Diagnose offen zu machen, oder macht man es besser nicht? Weil das muss man sehr gut abwägen, weil das kann auch ganz gut nach hinten losgehen, die Diagnose offenzulegen. Bei einer Klientin, da war es denn irgendwann klar, auch die Signale vom Betrieb, dass das sinnvoll ist. Die habe ich dann auch bei dem Gespräch begleitet und das habe ich ein Stück mit strukturiert. Einfach das offen zu machen, auch mit Erklärungen. Und die Firma ist toll damit umgegangen. Also wo dann auch Dinge möglich wurden, dass die einfach ein Raum für sich gekriegt hat, wo sie mehr Ruhe hat. Und es gibt aber auch Firmen Zusammenhänge, wenn man das offen machen würde, dann steigt das Risiko, dass derjenige eher rausfliegt oder rausgedrängt wird, als dass man ihm entgegenkommt.
Martin Hoffmann: Ich hab das Gefühl, dass eine autistische Störung oft als, ich sage es mal, als Schwäche ausgelegt wird, weil sie sozial nicht passt. Aber kann es auch, ich sage es mal, gewisserweise als Stärke ausgelegt werden, so was, dass man sagt: Naja, also ich hab halt einen sehr, sehr klaren strukturieren Plan. Ich höre auf das Wörtliche, was gerade gesprochen wird.
Kurt Nährig: Definitiv ja. Also deswegen sind ja so Firmen wie SAP und Auticon so dass die auch ein Stück sich spezialisiert haben auch diese Gruppe einfach beruflich mit reinzunehmen, weil die einfach ne hohe Präzision haben, so eine unheimliche Genauigkeit haben, was vergleichbar bei neurotypischen Menschen nicht in dem Maße da ist. Oder es sind Menschen, die sind einfach grundehrlich. Also das ist auch so ein Teil, was in der Arbeit sehr angenehm ist. Ich muss nicht wirklich damit rechnen, dass die mir was vormachen oder dass die mit ihrer hohen Sachlichkeit einfach dann auch sich in manche emotionalen Spielchen einfach nicht verstricken.
Martin Hoffmann: Wie arbeiten Sie denn mit Angehörigen von Betroffenen zusammen, um eben eine bestmögliche Förderung auch nicht nur von Ihnen in der Therapie, sondern auch danach noch zu gewährleisten? Wie machen Sie das?
Kurt Nährig: Also das hängt wieder vom Einzelfall ab. Und wenn dann der Wunsch kommt, den Partner oder die Partnerin einzubeziehen, dann mache ich das auch, wo es dann auch nochmal um Erklärung geht und dann nochmal darum geht zu gucken, was ist in der Paardynamik oder Familiendynamik da. Aber das ist auch zum Teil so, dass die Einzelnen das dann auch so nicht wünschen und dann eher so für sich gucken, wie kriege ich das besser gehändelt? Bei einer Klientin war dann ein ganz wesentlicher Punkt einfach zu lernen und zu begreifen: Es ist wichtig, dass ich mir Freiräume nehme. Und die hat dann, wenn sie nach Hause von der Arbeit kam, das so umgestellt, dass die ihren Kindern und Partner gesagt hat: Jetzt brauche ich erst mal zwei Stunden Ruhe und Zeit für mich. Und nachdem sie das gekriegt hat, war sie wieder im Grunde runter, hatte die Energie und hatte dann auch wirklich die Offenheit für Kinder und Partner. Die Kinder und der Partner haben auch gemerkt, wenn wir ihr das zugestehen, das Zusammenleben ist einfach viel, viel angenehmer.
Martin Hoffmann: Habe ich von vielen aber auch schon gehört, die sagen: Naja, bevor ich dann nach Hause gehe, manchmal ist es gut, wenn der Heimweg auch einen Ticken länger ist, um mal so ein bisschen runterzufahren, um dann auch wirklich für die Familie oder für die Partnerschaft da zu sein. Herr Nährig, vielen, vielen Dank für das Gespräch. Ich hab unglaublich viel gelernt. Unglaublich spannend. Danke Ihnen.
Kurt Nährig: Danke auch.
Martin Hoffmann: Ich muss gestehen, ich wusste nicht, wie viele Facetten Autismus haben kann und dass Autismus-Störungen so oft falsch diagnostiziert oder einfach nicht als solche erkannt werden, mit den entsprechenden Folgen für die Betroffenen. Lena Kühl hat erst im Alter von 19 Jahren ihre Diagnose Asperger-Autismus bekommen. Neben ihrer Arbeit als Ergotherapeutin und Heilerziehungspflegerin macht sie sehr viel Aufklärungsarbeit über Asperger und bietet online Vorträge zum Beispiel zum Thema Autismus und Kommunikation an. Mit ihr bin ich heute Nachmittag in Denkendorf verabredet. Das liegt östlich von Stuttgart an der A8. Wir treffen uns bei ihr daheim. Lena hat auch ihren eigenen Podcast zum Thema Autismus und ich habe jetzt gleich zwei Stunden Autofahrt vor mir. Ich glaube, die Zeit nutze ich und hör mal in den Podcast rein. Ich bin jetzt mitten in Denken Dorf im Wohngebiet und stehe kurz vor der Hausnummer 25. Hier wohnt Lena Kühl. Ich muss mal gerade schauen. Hier steht Kühl. Und da geht es schon los. Hallo, Lena.
Lena Kühl: Lena Kühl Hallo.
Martin Hoffmann: Hallo
Martin Hoffmann: Schön, dass wir da sein dürfen.
Lena Kühl: Ja, Komm rein.
Martin Hoffmann: Super. Danke schön. Einfach hierdurch, oder?
Lena Kühl: Ja, genau.
Martin Hoffmann: Sehr schön. Lena, bei dir wurde erst mit 19 Jahren das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Wie war denn dein Leben vor der Diagnose?
Lena Kühl: Meinen Eltern war klar, als ich zwei Jahre alt war. Irgendwas stimmt nicht. Also das war schon klar. Ich bin dann von Therapien zu Therapie und von Arzt zu Arzt und naja, die Kinderärzte waren der Meinung es verwächst sich. Meine Eltern haben dann immer um sämtliche Therapien gekämpft, aber es wusste halt lange keiner. Und dann was des Zufallsdiagnose dann letzten Endes mit 19.
Martin Hoffmann: Was heißt da Zufallsdiagnose? Wie kam das raus?
Lena Kühl: Naja, ich war wegen einer Belastungsstörung stationär in der Klinik und die behandelnde Psychologin war dann der Meinung, sie hätte einen Kollegen mit Asperger-Syndrom und dem sei ich zu ähnlich, ob das bei mir nicht auch sein könnte. Und sie konnte dann aber nicht von der Sozialphobie medizinisch abgrenzen und deshalb war es da nur eine Verdachtsdiagnose. Und dann habe ich es in Freiburg abklären lassen.
Martin Hoffmann: Wie war das für dich, als du dann gemerkt hast oder hast du diese Diagnose bekommen hast?
Lena Kühl: Das war eine Erleichterung eigentlich, weil ich habe zu dem Zeitpunkt, war ich schon auf der Suche nach einer Diagnose. Ich habe die Bücherei nach einer Diagnose durchsucht, nach der passenden Diagnose und bin dann halt auf Depressionen und Psychosen und so gestoßen und dachte mir so: Nee Psychose wird es nicht sein. Depression könnte, aber passt auch nicht so ganz.
Martin Hoffmann: Hast du mal daran gedacht, dass das Asperger sein könnte oder hat es dich selbst auch überrascht?
Lena Kühl: Asperger dann im Endeffekt nicht. Autismus ja. Also es gab eine nette Situation, lange bevor die Diagnose kam. Da habe ich in einem Buch gelesen irgendwie Ernährungsirrtümer oder sowas. Und da haben Sie beschrieben, dass bei einem autistischen Menschen Gluten und Milchzucker weggelassen haben und dadurch die Symptome besser wurden. Und ich dann zu meiner Mutter: Mama, guck mal, das ist doch total spannend. Und die so: Ja, kannst du mal ausprobieren. Und ich so: Was? Und sie so: Ja, deine Therapeutin ist der Meinung, dass du autistische Züge haben könntest. Ich hatte aber, so ging es meiner Mutter zu dem Zeitpunkt auch, eher den frühkindlichen Autismus im Kopf. Und dann hab ich gedacht, nee irgendwie, das passt halt auch nicht. Und deshalb war das dann auch relativ schnell verworfen. Und das mit dem Asperger, das kam dann später.
Martin Hoffmann: Wie hat dein Umfeld auf die Diagnose reagiert?
Lena Kühl: Eigentlich ganz entspannt. Die meisten haben ja schon mitgekriegt, irgendwas ist da anders, irgendwas stimmt da nicht. Meine Mutter habe ich immer später dann gehört, so dieses Thema: Hätten wir das früher gewusst, hätte man anders agieren können, oder so Sachen. Aber ansonsten... Ja, In der Ausbildung bin ich ein paarmal noch drüber gestolpert, also in der ersten Heilerziehungspflegeausbildung da war es dann schon so, dass ich dann aus gewissen Dingen, wie Theaterprojekten, ausgegrenzt worden bin, weil man gesagt hat Du als Autist, du kannst auch kein Theater spielen. Ja, in der Ergotherapie. Als ich mich dort beworben hatte, hatte ich das auch gleich mit angegeben und da war dann auch erst mal so: Kannst du das? Schaffst du das? Dann von den Dozenten her und das hat mich dann schon aufgeregt. Aber ansonsten... So vom Umfeld her ging das eigentlich relativ entspannt und meine Vorgesetzten, die ich im Laufe meines Lebens hatte, die wussten tatsächlich schon, bevor ich mich überhaupt beworben hatte, dass ich im Autismus Spektrum bin.
Martin Hoffmann: Wo du gerade so Vorurteile, so ein bisschen ansprichst, also dass man dir das nicht zugetraut hat, zum Beispiel Theater zu spielen. Gab es da noch weitere Situationen, wo du mit solchen Vorurteilen konfrontiert wurdest, wo du auch gesagt hast: Es irgendwie unfair gerade.
Lena Kühl: Weniger, tatsächlich... also so richtig. Es gab mal im Spaß dann, dass da jemand gesagt hat: Wie bei dir gibt's Chaos? Du bist doch autistisch oder so, das ist doch alles streng sortiert. So Sachen dann schon, aber das war eher so im Spaß dann mal daher gesagt. Bei mir war es immer eher so, dass es manchmal im Gespräch schwierig war, dass ich dann gewisse Dinge nicht verstanden habe oder falsch verstanden habe und das dann überhaupt nicht eingeordnet wurde, so dass ich dann was wörtlich genommen habe und meine Mitmenschen wussten nicht, was ist denn jetzt los? Gut, das war jetzt auch was außerhalb. Also das war schon noch vor der Diagnose: Lieblingssatz "Man könnte mal die Wäsche runtertragen." Meine Mutter hatte mir dann nach der Kündigung erzählt, man könnte mal, heißt so viel wie "Mach das jetzt bitte." Ich hatte verstanden: Ja, man könnte irgendwann mal. Man macht es halt dann irgendwann mal und jetzt mache ich aber erst mal was anderes.
Martin Hoffmann: Ich verstehe das aber auch manchmal so. Wenn man sagt, man könnte mal, dann sage ich ja, naja, also man könnte schon.
Lena Kühl: Ja und ich hatte das dann gelernt. Man könnte mal, heißt so viel wie Macht das jetzt bitte. Das ist dann halt eine Einrichtung später wieder schief gelaufen mit dem Kommentar: Naja, eigentlich war das jetzt schon wörtlich zu verstehen.
Martin Hoffmann: Wie du gerade gesagt hast bei der Ausbildung, dass man dir auch manche Sachen nicht zugetraut hat. Wie war das für dich, dass man gesagt hat: Ja, okay, du kannst es vielleicht nicht.
Lena Kühl: Mich hat es immer geärgert. Also das fand ich ziemlich doof. Vor allem das mit dem Theater zum Beispiel. Ich hatte davor jahrelang hier in Ostfildern bei der Jugendbühne Theater gespielt und ich wusste, ich kann Theater spielen. Und ich wusste auch... Gut, mir war auch klar, dass man mit mir ein bisschen anders üben muss, aber dass das gut funktionieren kann und dass ich da eigentlich auch von profitiere. Und dann so dieses: Du kannst kein Theater spielen, du bist ja autistisch. Das war für mich dann so, ey Leute.
Martin Hoffmann: Gibt es für dich so besondere Situationen im Alltag, die dich sehr herausfordern?
Lena Kühl: Wenn's ganz laut ist. Ganz viele Leute, ganz viel laut. Dann wird es schwierig.
Martin Hoffmann: Was wird da genau schwierig?
Lena Kühl: Ich bin da einfach reizüberflutet, also ich merke, ich halte es nicht aus. Ich krieg es tatsächlich hin, das habe ich Heilerziehungspflege gelernt, wenn ich einen klaren Plan habe, was ich machen muss, kann ich das ignorieren. Dann mache ich einfach meinen klaren Plan. Wehe, man spricht mich dann an, dann kriegt man im Normalfall keine Antwort. Aber wenn ich nichts zu tun habe und es ist gerade zu unruhig, zu laut, zu keine Ahnung. Dann geht halt die Jalousie irgendwann runter und es kann wirklich so weit gehen, dass ich dann ja dastehe, wie eine Salzsäule und dann halt gar nichts mehr funktioniert.
Martin Hoffmann: Hast du für dich so eine Strategie, wie du dann aus solchen Situationen rauskommst? Es passiert ja manchmal. Man kann es ja nicht alles beeinflussen. Wie Wie kommst du daraus wieder?
Lena Kühl: Also einerseits merke ich es vorher. Also ich hatte als Kind halt häufig solche Aussetzer, wo genau das passiert ist: Rollo runter und dann ging halt gar nichts. Und ich habe eigentlich den ganzen Vorspann nicht mitgekriegt. Das heißt, das kam aus heiterem Himmel. Zack, war ich komplett weg, war verbal nicht mehr zugänglich. Da kam dann so nette Sachen wie "Salzsäule", "Winterstarre". Mittlerweile kriege ich den Vorspann mit. Das heißt, ich gehe dann aus der Situation heraus oder suche mir einen ruhigen Ort oder sonst irgendwas. Also so kriege ich das eigentlich ganz gut hin. Oder ich guck, was habe ich jetzt an ganz klaren Aufgaben? Was kann ich da ganz klar machen? Und dann klappt das auch.
Martin Hoffmann: Du hast gerade gesagt, wenn du so einen Plan hast, dann funktioniert das ganz gut. Was ist denn in einer Situation es ist laut, es sind viele Leute und du hast diesen Plan und man stört dich dann in dem Moment. Was passiert da?
Lena Kühl: Entweder bin ich dann einfach für diese Störung nicht zu haben. Störungen werden dann ignoriert, die haben dann keine Vorfahrt oder man kriegt auf jeden Fall keine adäquate Reaktion von meiner Seite. Es kann auch so weit gehen, dass ich dann nicht mehr zurück in mein eigentliches Tun finde, je nachdem, was das ist.
Martin Hoffmann: Hast du in oder nach solchen Situationen auch so das Bedürfnis, dass du sagst okay, ich muss mit den Leuten noch mal darüber sprechen?
Lena Kühl: Nee, tatsächlich nicht. Es sei denn, ich habe wirklich das Gefühl, man könnte daran jetzt gerade was ändern. Das ist mir einmal bei einer Fortbildung passiert, aber es wird auch nicht immer verstanden, auch von Fachleuten.
Martin Hoffmann: Was heißt, es wird nicht verstanden?
Lena Kühl: Es wird nicht verstanden, dass das jetzt ein Problem war. Wenn ich das Problem manchmal anspreche, das können viele nicht nachvollziehen, warum das jetzt zu einem Problem geworden ist für mich. Zum Beispiel jetzt gerade in dieser Fortbildung, war es dann tatsächlich so, wir hatten eine Hauptdozentin, die hat so eine Hybrid-Fortbildung mit uns gemacht. Also es war ein paar online vorhanden und der Rest war aber in Präsenz. Das war schon anstrengend, auch für mich dann, weil dann teilweise das Gespräch dann auch nur online ging und wir dann als Präsenzleute dann einfach zugehört haben. Und parallel gab es noch eine zweite Dozentin, die dann gemeint hat, sie müsste zeitgleich noch Organisatorisches klären. Das hat mich tatsächlich auch so aus der Bahn geworfen, dass ich dann da auch irgendwann mal echt raus bin. Und dieser zweiten Dozentin, die die Orga dann gemacht hat parallel, der zu erklären, dass das zu viel war. Das war schier ein Unding, weil das hat die einfach nicht verstanden, dass das zu viel sein könnte, weil für sie war das ja alles überhaupt kein Problem. Und das machen wir kurz und dann ist gut. Und für mich war das dann halt relativ schnell viel zu viel.
Martin Hoffmann: Gibt es Situationen, aus denen du auch für dich so eine Stärke noch mal rausziehst?
Lena Kühl: Was mich schon in der Heilereziehungspflege fasziniert hat, was mir jetzt aber als Ergotherapeutin auch immer wieder auffällt: Ich komme mit nicht sprechenden Menschen hervorragend klar, weil einfach ein kompletter Kommunikationsteil komplett wegfällt und ich mich dann nur noch auf die Körpersprache konzentrieren kann. Und dann funktioniert das auch. Und das Schöne ist, die haben meistens ein klares Ja, die haben ein klares Nein und vielleicht noch irgendeine Zeigegeste. So, und damit kann ich arbeiten. Während es bei sprechenden Menschen oft so ist, dass das, was mit der Gestik passiert, was mit der Mimik passiert und das, was gesagt wird, einfach nicht zusammenpasst.
Martin Hoffmann: Also ich finde es total spannend. Gerade wurde sagst mit mit Körpersprache oder wie der Körper irgendwie so arbeitet. Hast du das Gefühl, dass du das dann dadurch, ich sag jetzt mal, noch mal besser kannst als vielleicht auch andere, weil du dich da so drauf konzentrieren kannst und das dann auch fühlst und spürst was da passiert?
Lena Kühl: Ja, ein stückweit. Ich erlebe viele Menschen, also meistens Kollegen, die dann oft nicht die Geduld haben, sich dann auf so jemanden einzulassen, weil es halt dann manchmal doch ein bisschen mehr Geduld erfordert und der dann nicht geschwind sagt, so und so, sondern man muss das manchmal auch erraten und das dauert halt. Und ich hab dann halt die Geduld und ich setz mich dann halt hin. Und ich nutze das jetzt auch viel in der Ergotherapie. Ich arbeite viel mit nichtsprechenden Kindern und da ist wirklich das Schöne, die haben ein Zeichen für Ja, ein Zeichen für Nein und dann halt dieses an die Hand nehmen und irgendwo hinbringen und "Mach mir mal!" Also wenn es dann darum geht die Tür aufzumachen, gibt es einige, die mich dann an die Hand nehmen und sagen: Du, ich will jetzt, dass du hier die Tür aufmachst oder... Das sagen die nicht, aber das zeigen die mir. Oder dann in die Hängematte, ich will da jetzt in die Hängematte. Ich komm da jetzt nicht rein. Hilf mir bitte. Dann die Arme hoch. So Sachen.
Martin Hoffmann: Wie ist es denn mit Angehörigen und Freunden? Wie können die dich am besten unterstützen? Oder möchtest du überhaupt so eine Unterstützung haben von deren Seite?
Lena Kühl: Nicht direkt. Also bei Freunden ist es sowieso so, dass die meistens aus den Selbsthilfegruppen stammen und selber im Spektrum sind. Das ist dann noch mal eine ganz andere Geschichte. Angehörige. Ich meine meine Eltern und so, die sind das eigentlich gewohnt, die wissen, wie sie mit mir kommunizieren müssen, damit es funktioniert. Ich habe es damals in der Heilerziehungspflege bei Kollegen gemerkt. Genau. Aber das ist dann letzten Endes das, was ich vorhin schon über die Kommunikation gesagt habe, dass da einfach nicht klar genug kommuniziert wird und ich dann manchmal dastehe: Was willst du jetzt von mir?
Martin Hoffmann: Okay, wir müssen noch mal über die Selbsthilfegruppe sprechen. Wenn mit Freunden, die dann selbst, wie du sagst, aus dem aus dem Spektrum kommt, wie ist das dann? Wie funktioniert die Kommunikation? Wie macht ihr das?
Lena Kühl: Also ich glaube, von außen beobachtet würde man nicht auf die Idee kommen, dass sich da eine Gruppe autistischer Menschen unterhält. Was da funktioniert ist, dass immer nur einer spricht. Wir können zehn in der Gruppe sein. Es spricht immer nur einer und die anderen hören zu. Das ist das, was mittlerweile online ganz gut auch mit nicht autistischen oder neurotypischen, NTs, funktioniert. Aber was vorher ganz lange eben nicht funktioniert hat, das heißt, da gab es immer wieder Nebengespräche und das gibt es in diesen Gruppen ganz häufig nicht und wenn, dann gibt es meistens einen aus der Gruppe, meistens dann auch ich, die dann einfach mal kurz reinruft: Hey, kann man bitte eins nach dem anderen. Und das klappt dann auch. Also so Sachen. Wir haben in der Gruppe dann häufiger auch Situationen, wo einfach das Gespräch insgesamt langsamer läuft, dass die Pausen, wo man sich einfach mal anschweigt, größer sind und lauter so Sachen.
Martin Hoffmann: Fühlst du dich dann in so einer Situation wohler, weil dann alles irgendwie geordneter ist?
Lena Kühl: Die Kommunikation ist da. Auch die verbale Kommunikation ist da einfacher, weil auch ganz viel zum Beispiel kommuniziert wird, also ganz viel verbal auch kommuniziert wird. Als nicht Autist zum Beispiel kündigt man ja einen Witz über die Mimik zum Beispiel an. Wenn ich jetzt in der Selbsthilfegruppe bin, wird der Witz vorher verbal angekündigt oder im Nachhinein gesagt, ey war jetzt ein Witz, war jetzt nicht ernst zu nehmen. Also das wird alles verbalisiert und da läuft ganz wenig über Körpersprache letzten Endes, also es wird ganz wenig davon ausgegangen, keine Ahnung, ich habe doch jetzt so geguckt und jetzt muss doch mein Gegenüber schnallen, dass ich das meine. Sondern es wird dann einfach gesagt. Ich merke das auch manchmal. Mein Freund ist auch in einem Spektrum, wo ich dir manchmal sag ich, du brauchst mich nicht hinterherlaufen, du kannst sitzen bleiben oder lauter so Sachen. Das läuft halt alles dann verbal ab.
Martin Hoffmann: Also dass da keine Missverständnisse aufkommen, sondern wird ganz, ganz klar kommuniziert, dass alle wirklich auch Bescheid wissen. Wie hat sich das verändert? Ich sage es mal in den letzten Jahren irgendwie auch. Wie wird Autismus in der Öffentlichkeit, in der Gesellschaft wahrgenommen? Wie ist da deine Einschätzung zu?
Lena Kühl: Also als ich ganz frisch die Diagnose bekommen hab, hab ich meine Therapeuten und Ärzte noch zu dem Thema aufgeklärt.
Martin Hoffmann: Du hast sie aufgeklärt?
Lena Kühl: Ja, also ich habe dann schon ab und zu mal meinem Therapeuten oder auch manchen Ärzten habe ich dann schon manchmal erklärt, was ist eigentlich Autismus? Autismus wussten die meisten, aber beim Asperger waren sie sich dann definitiv total unsicher und ich hatte mit einer Therapeutin auch eine längere, länger anhaltende Diskussion darüber, ob jetzt das Asperger-Syndrom Teil vom Autismus-Spektrum ist. Lauter so Diskussionen, weil eben dieser frühkindliche Autismus die viel stärker ausgeprägte Variante eben den Leuten tatsächlich präsent ist. Und das ist jetzt heute weniger der Fall. Wobei ich immer noch merke, dass ganz, ganz viel Aufklärung fehlt.
Martin Hoffmann: Und das machst du ja auch. Also man kann vielleicht sagen, dass das vielleicht der Beginn, die Diskussion mit der Therapeutin war, ja vielleicht sogar der Beginn, dass du sehr, sehr viel Aufklärungsarbeit über Autismus und vor allem auch über Asperger noch mal machst. Eigenen Podcast, auch online Workshops. Warum machst du das genau und was machst du genau?
Lena Kühl: Also der Startschuss kam tatsächlich aus einer Selbsthilfegruppe. Ich habe mich mit einem autistischen Herrn unterhalten, der dann so eine Story erzählt, dass er neu zu einem Arzt gegangen ist und hat dann gemeint, er sei "Aspi" und der Arzt hat ihn dann wohl allen Ernstes gefragt, in welche Kirche man denn dann als Aspi geht. Und ich dachte mir, so irgendwas ist da jetzt komplett schiefgelaufen und habe mir dann vorgenommen, okay, ich betreibe jetzt Öffentlichkeitsarbeit. Dann wollten wir erst mit der ganzen Gruppe Öffentlichkeitsarbeit machen, also das war auch so eine Selbsthilfegruppe. Das hat aber nicht funktioniert, weil ja, man kennt es ja, man hat so eine große Gruppe und versucht in der Gruppe was zu machen. Da siegt einfach diese Gruppenträgheit. Keine Chance. Und dann habe ich gesagt so, und dann mache ich das jetzt halt als Einzelkämpferin. Und ich bin dann hier zum Jugendbüro und habe dann gefragt, ob die mich dabei unterstützen würden. Da haben die gesagt Ja klar, du machst den Vortrag und wir machen die Orga außen rum. Das hat insofern ganz gut geklappt, dass die Orga außen rum funktioniert hat und ich dann meinen Vortrag gehalten habe. Einziges Problem: Dieser Vortrag hing, glaube ich drei, vier oder fünf Stunden.
Martin Hoffmann: Das ist eine lange Zeit für einen Vortrag.
Lena Kühl: Und dann habe ich gelernt, meine Vorträge kürzer zu halten. Und dann hatte ich ja mit dem Autismusverein Stuttgart eine Person, die mich da noch ein bisschen unterstützt hat. Und dann ging es weiter über Volkshochschulen und das hat dann immer größere Kreise gezogen. Und so kam das dann letzten Endes und mittlerweile gebe ich Fortbildungen und so Sachen auch für Therapeuten, für Erzieherinnen, also Kindergartenmitarbeiter und -mitarbeiterinnen. Und so lief das dann immer, aber immer irgendwie so nebenher. Nie auf dem Ding, ich will jetzt hier damit meinen Lebensunterhalt verdienen, sondern immer so da, wo es halt gerade reingepasst hat, da habe ich es dann gemacht.
Martin Hoffmann: Jetzt habe ich vorhin vom Herrn Nährig gehört, dass immer noch sehr viel Aufklärungsbedarf da ist. Wie würdest du denn die Situation heute beschreiben? Wo sind wir, wo stehen wir gerade als Gesellschaft, was Autismus angeht? Ist es angekommen? Ist es in den Köpfen auch angekommen?
Lena Kühl: Es ist, ich sage es mal so, die Begrifflichkeiten sind, glaube ich, mittlerweile hier durchaus angekommen. Aber ich kriegs halt immer noch mit, dass viele Therapeuten zum Beispiel sich schwertun, autistische Menschen zu behandeln, weil sie sich unsicher sind. Auch Ärzte an manchen Stellen, wo ich denke, da könnte ein bisschen mehr... also es ist einfach noch eine gewisse Unsicherheit da oder eine gewisse Unaufgeklärtheit an manchen Stellen auch noch. Was für viele ganz schwierig ist, ist eben diese wahnsinnige Vielfalt von autistischen Menschen. Also wir sagen immer "Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten" und so ist es halt einfach.
Martin Hoffmann: Den kannte ich noch nicht, muss ich sagen, der ist gut.
Lena Kühl: Damit tut sich tatsächlich ganz viele Menschen schwer. Auch Leute, die sich eigentlich mit dem Thema auskennen oder halt schon ein gewisses Grundwissen haben. Dann zu sagen: Hey, ich habe jetzt drei völlig verschiedene Menschen, wie kommt man bei allen drei auf diese Diagnose? Wo ich sage: Ja, Grundantwort ist halt das Thema Wahrnehmung und dann darauf aufbauend die Kommunikationsproblematik. Wie sich der Rest dann zusammensetzt, keine Ahnung. Es ist sehr individuell und ich merke es halt auch jetzt in den Selbsthilfegruppen. Wobei bei den Erwachsenen ja, man ist sich in vielen Storys eigentlich ziemlich ähnlich, aber wenn man sich dann überlegt, wo habe ich meine Schwierigkeiten, zum Beispiel in der Wahrnehmung und wo hat es der andere, da merkt man schon wieder, das sind die Differenzen, weil während der eine Autist sagt: Naja, so Geruch juckt mich eigentlich überhaupt nicht, lässt sich der Nächste vom Geruch zum Beispiel komplett aus dem Gespräch rauswerfen und lauter so Sachen. Also genauso mit dem Thema hören oder auch anfassen. Es gibt autistische Menschen, die suchen den Körperkontakt ja, wo dann mir schon wieder wahrscheinlich Leute sagen würden das ist doch völlig Autismus untypisch. Nein, es gibt autistische Menschen, die den Körperkontakt suchen und es gibt Leute, die sind völlig reizüberflutet und völlig damit überfordert, wenn sie auch nur gestriffen werden. Und irgendwo gibt es dann halt alles dazwischen.
Martin Hoffmann: Also wirklich eine ganz große Bandbreite, eine ganz, ganz große Facette. Lena, vielen, vielen Dank, dass ich dich kurz kennenlernen durfte. Ich habe wirklich sehr, sehr viel gelernt. Danke Dir.
Lena Kühl: Gerne. Danke auch.
Martin Hoffmann: Bis Autismus wirklich in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen ist, ich glaube, das dauert schon noch eine Weile. Da liegt noch sehr viel Aufklärungsarbeit vor uns. Und ich muss sagen, Lena hat mich wirklich beeindruckt, weil sie Asperger eben als Stärke einsetzt, gerade im beruflichen Kontext. Als Ergotherapeutin, wenn sie mit Kindern arbeitet, die nicht sprechen. Wenn ihr gerne mehr Information über das Thema Autismus und seine vielen Facetten haben möchtet. Dann kann ich euch unsere Shownotes empfehlen. Da haben wir viele Informationen und Links zusammengetragen. Lohnt sich auf jeden Fall, da mal reinzuklicken. Und natürlich lohnt sich auch ein Blick auf unseren Instagram-Kanal. @gesundnah. Hier könnt ihr Fragen, Anregungen und Themenvorschläge an uns schicken. Einfach über eine Direktnachricht. Und wir freuen uns natürlich auch über Bewertungen und Kommentare von eurer Seite. Es wäre schön, wenn ihr das nächste Mal auch wieder dabei seid. Ich bin Martin Hoffmann. Wir hören uns.
Outro: GESUNDNAH - der Gesundheits-Podcast der AOK Baden-Württemberg.
fallersammlerin
‧